Ein kleiner Junge mit wachen blauen Augen scheint den Leser dieses Buches direkt anzuschauen. Er trägt ein kariertes Hemd und kurze Lederhosen, in der Hand hält er ein Flugzeug, auf dessen Tragflächen Hakenkreuze gemalt sind. Sein Blick wirkt prüfend, nachdenklich mustert er, was er sieht. Am Schluss grinst er den Betrachter freundlich an.

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Die aus sieben Zeichnungen bestehende Bilderfolge ist eine Schlüsselszene für den Entstehungsprozess des Buches „Zwei weibliche Halbakte“, der neuen Graphic Novel des französischen Zeichners  Rénald Luzier alias Luz. Wieso, erklärte der 53-Jährige, der lange für die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ gearbeitet hat, vor einigen Tagen bei einem Besuch in Berlin.

„Zwei weibliche Halbakte“ erzählt anhand des gleichnamigen expressionistischen Gemäldes von Otto Mueller (1874 – 1930) vom Aufstieg der Nationalsozialisten, der Unterdrückung und Vernichtung der von ihnen verfemten Kunst sowie dem zähen Prozess der Restitution, mit dem in den vergangenen Jahren zumindest teilweise versucht wurde, Nachfahren der einst von den Nazis enteigneten ursprünglichen Besitzer der Kunst finanziell zu entschädigen.

Das Buch

© Reprodukt

Luz: „Zwei weibliche Halbakte“, aus dem Französischen von Lilian Pithan, Lettering: Minou Zaribaf/Font: Luz, Reprodukt, 192 Seiten, 29 Euro.

Der Clou an dem Buch: Luz erzählt die ganze Geschichte aus der Perspektive des Mueller-Gemäldes. Die Leserinnen und Leser von „Zwei weibliche Halbakte“ sehen knapp 200 Seiten lang nur das, was sich vor dem Bild abspielt. Das beginnt mit der Schöpfung des Kunstwerks im Jahr 1919 durch Mueller auf einer Waldlichtung am Stadtrand von Berlin, wo ihm seine damalige Frau Mascha Modell stand.

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Eher beiläufig, aber umso eindrucksvoller vermittelt Luz dann anhand der komplexen Geschichte des Gemäldes und seiner mehrfach wechselnden Besitzer die eskalierende Gewalt gegen Juden und Andersdenkende nach der Machtübernahme der Nazis bis hin zum organisierten Massenmord. Die Erzählung endet im Kölner Museum Ludwig, wo das Bild nach einer jahrzehntelangen Odyssee heute hängt.

Die Nazi-Ausstellung „Entartete Kunst“ aus der Sicht eine Boldes: eine Seite aus „Zwei weibliche Halbakte“.

© Reprodukt

Dass er sein Buch aus der Perspektive des Gemäldes erzählt, sei darauf zurückzuführen, dass er sich eines Tages eine Szene wie die mit dem kleinen Jungen vor dem Bild vorgestellt habe. Das erzählt Luz bei seinem Gespräch mit dem Tagesspiegel in der Französischen Botschaft neben dem Brandenburger Tor. Hier hat er zuvor einen Schreib- und Zeichenworkshop für Schülerinnen und Schüler gegeben, am Abend steht ein Podiumsgespräch mit einer Kunsthistorikerin vor rund 160 geladenen Gästen auf dem Programm.

[Es ist] die Geschichte eines Überlebens durch eine Verkettung von Zufällen – also ein bisschen auch meine eigene Geschichte.

Luz über seine Graphic Novel „Zwei weibliche Halbakte“

„Ich habe vor einigen Jahren ein Buch gesehen, in dem alle Ausstellungswände der Ausstellung ,Entartete Kunst’ rekonstruiert waren“, erzählt Luz. Mit diesem Begriff diffamierten die Nationalsozialisten in den 1930er-Jahren zahlreiche Werke der modernen Kunst sowie von jüdischen Künstlerinnen und Künstlern. Ab 1937 zeigten sie in einer Wanderausstellung Hunderte der meist zuvor in Museen und Galerien konfiszierten Werke in der Absicht, sie und ihre Schöpfer öffentlich bloßzustellen.

„Ich wollte ein Buch zu diesem Thema machen, wusste aber nicht, auf was ich mich bei meiner Geschichte konzentrieren soll“, berichtet Luz: „Ein Gemälde, eine Skulptur, einen Maler, jemand aus dem Publikum?“

Im April hatte Luz seinen Comic „Zwei weibliche Halbakte“ vor dem gleichnamigen Bild im Museum Ludwig erstmals der deutschen Öffentlichkeit präsentiert.

© dpa/Oliver Berg

Da fiel ihm auf, dass das Gemälde von Otto Mueller, dessen Werk ihm schon als jungem Zeichner viel bedeutete, damals in der Ausstellung, die von den Nationalsozialisten absichtlich sehr chaotisch strukturiert worden war, sehr niedrig an der Wand hing, in etwa auf der Augenhöhe eines Kindes. „Ich fragte mich, ob die Ausstellung vielleicht auch von Kindern besucht wurde und was die hier gesehen haben mögen.“

Liebe und Hass, Leben und Tod

Das konnte Luz allerdings nicht eindeutig herausfinden – und so fühlte er sich ermutigt, der wahren Geschichte ein bisschen Fiktion hinzuzufügen. „Mir kam die Idee: Wieso erzähle ich die Geschichte nicht von der anderen Seite?“ Statt auf Muellers Werk zu schauen, drehte er die Perspektive um und nahm als Zeichner fortan den Standort des Gemäldes ein.

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„Bei meinen Recherchen entdeckte ich dann, welche bewegte Geschichte dieses Gemälde nicht nur selbst erlebt hat, sondern was sich vor ihm abgespielt hat“, sagt Luz: „Liebesgeschichten, Hass, wirtschaftliche Dramen, Leben und Tod, kleine Geschichten und große Geschichte – und es gibt sogar ein verdammtes Happy End, auch wenn das Gemälde einige Male zerstört werden sollte.“

Adolf Hitler und seine Entourage in der Ausstellung „Entartete Kunst“: eine weitere Seite aus der deutschen Ausgabe von „Zwei weibliche Halbakte“.

© Reprodukt

So hätten ihm Muellers Kunstwerk und der von ihm imaginierte kindliche Besucher der Ausstellung „auf eine Weise gesagt, wie ich mein Buch konzipieren soll.“

Überlebt dank eines Zufalls

Im Kern ist „Zwei weibliche Halbakte“ für den Zeichner „die Geschichte eines Überlebens durch eine Verkettung von Zufällen – also ein bisschen auch meine eigene Geschichte“.

Dass Luz zehn Jahre nach dem islamistischen Attentat gegen die Redaktion von „Charlie Hebdo“ am 7. Januar 2015 noch am Leben ist, verdankt er in der Tat einem großen Zufall: Er hatte an dem Tag Geburtstag und kam später als sonst zur Arbeit. Zwölf Menschen starben damals bei dem von zwei Brüdern verübten Anschlag.

In der Französischen Botschaft unterhielt sich Luz (links) unter anderem mit der deutsch-französischen Kunsthistorikerin Ines Rotermund-Reynard.

© Lars von Törne

Von Luz stammt das zur Ikone gewordene Titelbild der ersten Ausgabe von „Charlie Hebdo“ nach dem Attentat. Es zeigt unter der Überschrift „Tout est pardonné“ („Alles ist vergeben“) einen weinenden Mohammed vor grünem Hintergrund, der ein Schild mit der Aufschrift „Je suis Charlie“ hält.

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Wie er den Tag des Attentats und die Zeit unmittelbar danach erlebte, hat Luz bereits kurz nach dem 7. Januar in seinem Buch „Katharsis“ in expressiven Zeichnungen festgehalten. Darin ließ er die Leser vor allem an seinem Trauma und dessen Verarbeitung teilhaben. 2020 folgte dann seine autobiografische Comicerzählung „Wir waren Charlie“, die tiefe Einblicke in die Arbeit der Satirezeitschrift vor dem Attentat gibt.

Der Kontakt zu meinen Leserinnen und Lesern war mir zehn Jahre lang weggenommen worden.

Luz über die Zeit nach dem Attentat auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“

Der Öffentlichkeit blieb Luz allerdings aus Sicherheitsgründen zehn Jahre lang fern. Zu groß schien die Gefahr, dass er als der prominenteste Überlebende von „Charlie Hebdo“ und nach dem Attentat vorübergehender Chefredakteur der religionskritischen Zeitschrift erneut ins Fadenkreuz fanatisierter Gewalttäter geraten könnte.

Mit dem Erscheinen von „Zwei weibliche Halbakte“ hat Luz auch in dieser Hinsicht ein neues Kapitel eröffnet: Seitdem das Buch im Januar bei Europas wichtigstem Comicfestival in Angoulême mit dem Preis für den besten Comic des Jahres ausgezeichnet wurde, zeigt sich Luz wieder regelmäßig in der Öffentlichkeit – wenn auch weiterhin unter Vorsichtsmaßnahmen und mit einem Personenschützer in der Nähe.

Auszeichnung für historisches Kunst-Drama Comicfestival von Angoulême ehrt früheren „Charlie Hebdo“-Zeichner Luz

„Der Kontakt zu meinen Leserinnen und Lesern war mir zehn Jahre lang weggenommen worden“, sagt der Zeichner beim Gespräch in Berlin. „Ich freue mich, wieder über meine Arbeit sprechen zu können, sie erklären zu können – das bedeutet mir viel.“

Lange Zeit hielt sich Luz aus der Öffentlichkeit fern, jetzt spricht er wieder vor Publikum wie hier in Berlin.

© Lars von Törne

Und er wolle in Workshops und Veranstaltungen wie denen in der französischen Botschaft jungen Leuten vermitteln, „dass es sehr cool ist, ein Zeichner zu sein: Es ist eine der besten Arten, sich selbst ausdrücken zu können.“

Das Buch als Einladung

„Nach dem Angriff auf Charlie Hebdo gab es viele Karikaturen, auf denen Stifte als Waffen dargestellt wurden“, erinnert sich Luz. „Das fand ich unheimlich.“ Denn darum gehe es für ihn nicht beim Thema Meinungsfreiheit.

„Freiheit ist aus meiner Sicht nicht ein Stift, der ein Gewehr ist – sondern es geht darum, neue Räume zu schaffen, in denen man mit Menschen in Kontakt treten kann“, sagt Luz. Comics seien eine der besten Arten, das zu tun. „Dieses Buch ist für mich ein Weg zurück in die Freiheit, auch künstlerisch.“

Luz bei seinem jüngsten Besuch in Berlin.

© Lars von Törne

„Zwei weibliche Halbakte“ ist für Luz ein Werk, das zwar eine historische Geschichte erzähle, aber zugleich reflektiere es auch seine eigene Erfahrung. „Ich lade die Leser dazu ein, hinter ein Bild zu treten und die Welt aus dessen Perspektive zu sehen“, sagt er. „Und das ist zugleich zehn Jahre lang auch mein Platz gewesen: Ich habe Bücher gemacht, aber war nicht Teil dieser Welt, sondern habe sie nur durch meine Kunst hindurch betrachtet.“

Das neue Buch sei daher auch eine Einladung an das Publikum, „für eine Zeit meinen Platz einzunehmen und das zu fühlen, was ich gefühlt habe.“ Das seien sehr komplizierte Gefühle, die nur schwer in Worte zu fassen seien: „Erleichterung, Traurigkeit und viele andere Emotionen.“

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Die formale Beschränkung auf einen sehr engen Bildausschnitt, der lediglich den jeweiligen Bereich vor dem Gemälde zeigt, habe sich bei der Arbeit an „Zwei weibliche Halbakte“ als Befreiung herausgestellt, sagt Luz: „Es half mir, mit der enormen Fülle an historischen Informationen umzugehen, die ich gesammelt hatte.“

Die aufwendigste Arbeit an dem Buch war in diesem Fall nicht das Zeichnen, sagt er, sondern die Vorarbeit, von historischen Recherchen bis zur Erarbeitung des Konzepts. „Durch die Begrenzung auf eine Story, die sich vor dem Bild abspielt, hatte ich einen Grund, das meiste von dem wieder wegzuschmeißen, was ich zuvor an Informationen gesammelt hatte“, sagt Luz. „Das war eine große Erleichterung.“