Am Freitagabend wurde in Berlin eine der bekanntesten Performances des 20. Jahrhunderts aufgeführt, allerdings mit deutlichem Schlag ins 21. Jahrhundert. Die in Berlin lebende kanadische Elektromusikerin Peaches führte im Gropius Bau Yoko Onos „Cut Piece“ auf, dessen ungemütliche Handlungsanordnung das Publikum auffordert, sich mit einer bereitliegenden Schere an der Kleidung der performenden Person zu schaffen zu machen. Jeder, der will, darf ihr etwas vom Körper schneiden und das ergatterte Stück Stoff dann auch behalten.

Als Yoko Ono diese Performance uraufführte, 1964 in Kyoto, war das unerhört gewagt. Nacktheit auf der Bühne war skandalös, noch dazu in Japan. Aber die Frage war auch: Wie weit würde das Publikum gehen? Das Ganze ist eine bemerkenswerte Kreuzung aus Sit-in und Milgram-Experiment, und weil es eine Frau war, die sich hier vorsätzlich potenziell entkleiden ließ, wurde die Performance als feministisch ausgelegt, auch wenn Yoko Ono sagte, so habe sie das gar nicht gemeint, es sei eher buddhistisch inspiriert. „Cut Piece“ ist seither ungezählte Male aufgeführt worden, insgesamt sechsmal von Yoko Ono selbst, zuletzt 2003, im Alter von 70 Jahren, in Paris. Auch in Berlin war die Performance schon zu sehen, 2023 gab es in der Neuen Nationalgalerie mehrere Aufführungen mit wechselnden Performern, übrigens auch Männern.

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Auch Peaches führte „Cut Piece“ schon einmal auf, 2013 in London. Yoko Ono war damals im Publikum und sagte anschließend, es sei die beste Performance von „Cut Piece“ gewesen, die sie je gesehen habe. Die Erwartungen an den Abend im Gropius-Bau, in dem gerade eine große Yoko-Ono-Ausstellung zu sehen ist, waren also hoch. Die Veranstaltung war sofort ausverkauft, 700 Leute ergatterten eine Karte. Damit ist das Atrium, in dem ein Podium aufgestellt wurde, gesteckt voll. Das Publikum sieht größtenteils aus wie bei einem Peaches-Konzert, also auf schillernde Weise interessant oder jedenfalls irgendetwas darstellend, aber es sitzen auch völlig normal angezogene Familien mit Kindern auf dem harten Steinkachelboden und Leute aus dem Berliner Kunstbetrieb.

Mit doppelter akademischer Verspätung betritt die Hauptperson die Bühne. Sie sieht sehr theatralisch aus in einem knallpinken langen, vorn gewickelten Kleid mit Seitenschärpe und so spitz aufragenden Schulterpolstern, dass sie den Kopf dazwischen trägt. Ihre Füße stecken in strassverzierten Plastik-Plateauschlappen. Ihre Frisur sieht ohnehin aus, als hätten sich bereits Leute mit Scheren rechts und links daran vergnügt. Huldvoll nimmt Peaches auf dem Podest den Platz ein, den sie nun eineinhalb Stunden lang halten wird – mit einer Gewichtsverlagerung auf die andere Seite. Eine Hand aufgestützt, die Beine seitlich angewinkelt sitzt sie da wie die kleine Meerjungfrau in Kopenhagen auf ihrem Stein. Ein kleines Lächeln umspielt ihre Mundwinkel, ihr Blick geht in die Ferne, als sehe sie in einen imaginierten Sonnenuntergang.

Keine Scham, keine Scheu – aber klar, wir sind ja in Berlin

Los geht es, Stille senkt sich über den Saal. Bestimmt eine Sekunde hält sie an, dann haben sich aus allen vier Himmelsrichtungen Schlangen vor dem Podium gebildet, und ehe man sich’s versieht, sind auch schon die ersten Personen mit frisch abgeschnittenen pinken Stückchen Stoff wieder von der Bühne abgegangen, und gerade schneidet ihr jemand ein bisschen was von der rechten Schulterspitze ab. Es geht wirklich sofort zur Sache. Ohne Scheu, Höflichkeit oder so etwas wie Scham. Aber das ist ja auch Berlin, hier wird nicht lang gefackelt, sondern der Berliner Performancebesucher will, zack zack, sein Gallery-Weekend-Souvenir.

Mit beachtlicher Zielstrebigkeit schneiden die ersten zwanzig, dreißig Leute Peaches Stücke von ihrem bestimmt teuren Designerkleid. Und es sind alles Leute, die definitiv aussehen, als wüssten sie, was der neuerdings dauernd zu hörende Begriff holding space bedeutet. Aber niemand nimmt sich einen Moment, es kommt null Spannung auf zwischen den Akteuren auf der Bühne, es ist einfach ganz platt, so, als gäbe es da was umsonst. Man sieht Leuten dabei zu, wie sie was erledigen. Oder eben auch nicht. Die Stimmung im Atrium wird unkonzentriert und verliert sich im Albernen.

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Das ist natürlich schade bei einer der bedeutendsten Performances der Performancegeschichte. Das Genre lebt ja von einem gewissen Ernst, der einer solchen Interaktion eine, irgendeine Bedeutung verleiht. Andererseits lässt sich darüber nachdenken, ob es nicht ein positives Zeichen für den gesellschaftlichen Fortschritt ist, wenn nichts Bedrohliches mehr darin mitschwingt, Menschen dabei zuzusehen, wie sie einer Frau auf einer Bühne Kleider vom Leib schneiden.

Vielleicht wird die Frau als solche ja nicht länger als ausgeliefert und schwach gelesen wie noch in den Sechzigerjahren, vor sechzig Jahren also, als die gesamte New Yorker Carnegie Hall den Atem anhielt, als ein Mann aus dem Publikum der unbewegt dasitzenden Yoko Ono erst das Unterhemd, dann die BH-Träger durchschnitt. Hinzu kommt natürlich, dass Peaches als Künstlerin selbst offensiv mit Nacktheit spielt. Sie ist oben ohne aufgetreten, als Vagina verkleidet und mit umgeschnallter Penisprothese. Das Publikum mag in dem Umstand, dass ihr Fremde die Kleidung wegschneiden, also weniger etwas Gewaltvolles sehen als vielmehr ein fröhliches Happening. Denn schließlich: Was bedeutet Nacktheit heute schon noch, zumal für eine Ikone queerer Bodypositivity?

Die Stimmung kippt ins schwer erziehbare Fach

Das Publikum geht so eifrig zur Sache, dass das Ganze etwas von Grabbeltisch hat. Dabei verhalten sich erst mal alle betont gewaltfrei, schnibbeln jeweils nur ein winziges Fitzelchen Stoff ab, bevorzugt von der Schärpe, die mit Peaches so viel zu tun hat wie ein neben ihr liegender Teppich. So geht das eine wahnsinnig lange Weile. Interessanterweise ist es dann eine Frau, die Peaches irgendwann eine Brust entblößt. Eine andere Frau wird später mit chirurgischer Präzision das Oberteil entfernen und den Stoff unterhalb des Bauchnabels drastisch minimieren. Aber vielleicht ist das auch gar nicht interessant, sondern einfach nur logisch im heutigen Klima. Wie sähe das aus, wenn ein Mann so was täte, und welcher Mann würde das wagen? Ist ja vielleicht auch gut so. Oder spielt keine Rolle mehr.

Das Publikum entscheidet darüber, wie „Cut Piece“ wird. Je nachdem, wie es sich verhält, gerät die Performance. In Berlin kippt die Stimmung nun bald ins schwer erziehbare Fach. Es beginnt damit, dass jemand sich sein Hemd auszieht, einen Streifen davon abtrennt und diesen der zu diesem Zeitpunkt noch fast gänzlich bekleideten Peaches um den Hals hängt. Danach setzt ihr jemand ein Baseballcap auf. Dann schneidet sich jemand selbst eine Haarsträhne ab und legt diese Peaches vor die Füße. Die Performance hat spätestens hier jeden Rest von Würde verloren. Auf dem Podium geht es nun zu wie in einem Hort für Kinder. Die meisten, die jetzt die Bühne betreten, wollen nur zeigen, dass auch sie Performer sind. Jemand klebt Peaches einen Aufkleber auf die Brust. Jemand malt mit Lippenstift ein Herz daneben. Jemand klemmt Peaches mit einer Haarspange die Kleiderreste vor der Brust zusammen. Peaches hat jetzt mehr an als vorher. Was da performed wird, ist weniger „Cut Piece“ als vielmehr „Hey Leute, wir dekorieren einen Star!“.

Das Publikum entscheidet darüber, wie „Cut Piece“ wird. In diesem sehr spezifisch berlinerischen Fall wird es einfach nur peinlich – nicht für Yoko Ono, nicht für Peaches, aber für das Publikum.Das Publikum entscheidet darüber, wie „Cut Piece“ wird. In diesem sehr spezifisch berlinerischen Fall wird es einfach nur peinlich – nicht für Yoko Ono, nicht für Peaches, aber für das Publikum. (Foto: Holger Talinski/Gropius Bau)

Jemand entwendet die Schere. (Ja, wirklich!) Jemand setzt Peaches Kopfhörer auf. Jemand wirft sich vor sie und entlässt einen gezielten Furz. Peaches nimmt das alles gütig lächelnd hin. Vielleicht stört es sie, vielleicht nicht, vielleicht sind das genau die Menschen, die sie mag, crazy Privatperformer, zu Hause in ihrem eigenen Sub-Universum. Vielleicht stört es sie auch nicht, dass ihr eine Frau ein schlammfarbenes Tuch in den Schoß wirft, das jemand in der ersten Reihe als Palästinensertuch erkennt, woraufhin diese Person empört „From Hamas!“ rufend den Saal verlässt. Es folgt natürlich das im Kunstumfeld obligatorische „Free Palestine“-Geplärre. Spätestens jetzt ist die Performance ein Kasperletheater. Hüllen wir das Tuch des Vergessens über alles, was noch folgt, inklusive des Traumtänzers mit dem Stirnband, der seiner inneren Stimme folgend auf der Bühne sein Oberteil auszieht und sich neben Peaches in den Schneidersitz setzt. Sekunden später sitzen weitere Zuschauer hinter den beiden. Einer von ihnen trägt ein T-Shirt, auf dem „Bratwurst“ steht.

Egal, egal, egal. Irgendwann ist auch diese Prüfung vorüber. Übrigens nicht, wie es Onos Instruktion vorsieht, weil die Performerin oder der Performer das beschließt, sondern hier startet das Publikum irgendwann von ganz allein den durchaus begeisterten Schlussapplaus. Peaches performt da eigentlich noch. Man hat sie inzwischen der über sie geworfenen Altkleidersammlung wieder entledigt und sie sitzt nackt auf der Bühne – mit Sticker auf der Brust, neuer Flechtfrisur und ein paar Malereien auf der Haut. Auf ein Zeichen hin bekommt sie einen Kimono und Schlappen gebracht. Sie schlüpft hinein, erhebt sich huldvoll wie eine Königin, über den ganzen lächerlichen Berliner Ego-Zirkus um Klassen erhaben, und schreitet von der Bühne.