Stand: 25.05.2025 13:12 Uhr

Ich habe Kinder, ich sitze im Rollstuhl, ich pflege meine Mutter, ich arbeite zu viel: Nichts davon soll Menschen daran hindern, Teil der Mai:Company zu werden. Bei diesem Tanzprojekt wird Teilhabe groß geschrieben.

von Sharon Welzel

Das Wetter? Wechselhaft. Sonne, Wolken, Wind und Regen – hamburgisch, sommerliche 12 Grad – trotzdem könnte die Stimmung auf dem Kampnagel-Gelände nicht ausgelassener sein. Über 200 Menschen sind gekommen, um den Auftakt zur Mai:Company zu feiern – mit einem Rave um 18 Uhr, angeleitet von der niederländischen Tänzerin Majon van der Schot. Was treibt alle diese Menschen hierher? Es ist die Gründung einer Tanzkompanie, zu der alle, und zwar wirklich alle, eingeladen sind. Nach und nach werden immer mehr Pullover, Schals und Regenjacken ausgezogen. Um diese bunten Haufen herum bewegen sich unterschiedlichste Menschen immer ekstatischer zu sphärischen Klängen und schnelleren Techno Beats im Wechsel. Durch die Bewegung entsteht Verbundenheit – zwischen Kindern, älteren Menschen und allen anderen dazwischen. „Dance is for free!“ ruft Majon van der Schot und verrät damit schon eine elementare Idee der Mai:Company: Teilhabe! Und die wird hier sehr ernst genommen.

Der Anfang einer Bewegung

Choreografin Patricia Carolin Mai bei der Arbeit im Studio © Mai:Company Foto: Heike Schluckebier


Alles gleichzeitig: Während der Proben zu ihrem Solo-Stück „Komm gucken“ war Patricia Carolin Mai parallel mit einem Community-Projekt beschäftigt.

Hinter dem Projekt stecken Patricia Carolin Mai und ihr Team. Schon seit 2016 arbeitet sie auf Kampnagel an ihrer Vision. „Ich möchte einen Raum schaffen, in dem es in Ordnung ist, dass wir so unterschiedlich sind. Dazu gehört auch der Clash von unterschiedlichen Ansichten, die es auszuhalten gilt. Jeder Mensch bringt ’sein Gepäck‘ mit. Da sind so viele Ressourcen in einem Raum. Das alles ist ein Schatz, die Basis für meine Arbeit.“ Dabei strahlt sie eine Energie aus, die man erlebt haben muss, um sie zu beschreiben: voller Wärme und wahnsinnig ansteckend. Viele Teilnehmer*innen vergangener Projekte kommen immer wieder zurück, die Fangemeinde wächst – vielleicht jetzt schon eine Bewegung. Das Workshop-Wochenende ist nur der Auftakt für die Kompanie. Die eigentlichen Proben beginnen im September 2025 und alle Interessierten können sich durch den Newsletter von Patricia Carolin Mai über den Anmeldeprozess informieren.

Diversität als Kraft

Mai stellt die Idee von professionellem Tanz auf den Kopf. Seit 2018 setzt sie Performances um, an denen fast ausschließlich Menschen ohne professionelle Tanzerfahrung beteiligt sind. Darunter Stücke in Leipzig und Marseille aber auch in Korea. Mit ihrer künstlerischen Arbeit bringt sie verschiedene Backgrounds und Altersgruppen zusammen. Beim Projekt FuturX, das im Mai 2025 in der Elbphilharmonie zur Aufführung kam, waren 85 Menschen zwischen 16 und 86 Jahren auf der Bühne. Sie alle haben eigentlich ein anderes Leben: eine Lehrerin, ein Arzt, eine Studentin, eine Rentnerin, ein Informatiker. Patricia Carolin Mai entwickelte aus der Gruppe heraus eine Choreografie, bei der jede und jeder Einzelne seinen Platz fand. Die Unterschiedlichkeit der Menschen wird so zur Kraft und nicht zum Problem.

Professioneller Rahmen

Mit Amateurtanz hat das Ganze trotzdem nichts zu tun. Denn obwohl hier Menschen zusammenwirken, die zumeist keine professionelle Tanz-Erfahrung haben, ist das Ergebnis ein professionelles Stück. Anne Kersting ist als erfahrene Dramaturgin schon lange Teil des Teams: „Das Ziel ist immer ein künstlerisches Ergebnis mit hoher Qualität – das ist der Anspruch und die Ernsthaftigkeit. Das Team schafft einen professionellen Rahmen und bietet die Ressourcen. Die Menschen bringen ihre Geschichten und eigenen Hintergründe als Arbeitsmaterial mit“, erklärt sie.

Gemeinschaft als lebendiger Organismus

Die Choreografien, die nach diesem Konzept entstehen, sind überwältigend. Das Ensemble wirkt gleichzeitig koordiniert und individuell. Das erinnert an Schwarmintelligenz. Und tatsächlich hilft diese Idee, auch den Tänzer*innen: „Wenn ich mal nicht wusste, wie es weitergeht in der Choreografie, konnte ich mich immer auf die Gruppe verlassen. Irgendwer hatte immer den Plan“, erzählt eine Teilnehmerin des FuturX-Projekts. Eigentlich ist das Tanzen auf einer großen Bühne nur denen vorbehalten, die eine lange, oft harte Ausbildung hinter sich haben. Choreografin Mai, will mit ihrer Arbeit beweisen, dass es auch anders geht: Die Bilder die sie mit unerfahrenen aber bewegungsinteressierten Menschen schafft, sind voller Poesie und Kraft. Die Masse wird zum lebenden Organismus, manchmal zu einer Maschine. Die Behauptung „Ich kann nicht tanzen!“- vielfach widerlegt. Patricia Carolin Mai erzählt von einem prägenden Moment: „Als ich angefangen habe zu tanzen, taten mir immer die Füße weh. Auf der Suche nach Hilfe hörte ich den Satz: ‚Auf diesen Füßen können Sie nicht tanzen.‘ Zum Glück fand ich noch einen Arzt, der das anders gesehen hat. Aber daraus entstand auch die Überzeugung, dass alle tanzen können sollen.“

Kleine Revolution – mit tänzerischer Leichtigkeit

Auch soziale und politische Aspekte spielen dabei eine Rolle. Die Räume, die durch ihre Arbeit entstehen, sind essenziell für unser Miteinander, weil sie echte Gemeinschaft ermöglichen, sagt Mai – und doch gebe es viel zu wenige davon. Körperliche Einschränkungen oder ein Mangel an Zeit, eine Familie, die zu versorgen ist oder ein fordernder Job sollen kein Hindernis sein, Teil der Company zu werden: „Menschen kommen und gehen und können im Rahmen ihrer Möglichkeiten da sein und nicht da sein“, ruft sie zu Beginn eines Workshops im Rahmen des Eröffnungswochenendes. „Es ist ein fluides Konstrukt.“ Das ermöglicht Partizipation auf hohem Niveau – wenn auch ausbaufähig. Denn eine Kinderbetreuung gibt es noch nicht vor Ort und eine Gebärdendolmetscherin auch nicht – man wächst mit seinen Aufgaben. Ein weiterer Anspruch: einen Raum zu schaffen, der frei ist von normativen Vorstellungen und Anpassungsdruck. Der 51-jährige Axel tanzte schon beim letzten Projekt mit: „Hier geht es nicht um Leistung. Ich habe selten in einer Gruppe gearbeitet, in der so wenig geurteilt wurde“, schwärmt er.

Arbeit zwischen den Welten

Dennoch: Für die Schaffenden ist die Arbeit im Grenzbereich nicht immer ganz leicht. Anträge um Fördermittel scheitern manchmal an der Unterscheidung zwischen Kunst und Vermittlungsarbeit. Das weiß Britta Lübke. Sie arbeitete von 2018 bis 2025 für Patricia Carolin Mai als Assistentin und konzeptuelle Beraterin: „Die Grenzen werden da oft ganz eng gesetzt – auch weil das, was wir hier machen, sich nicht so einordnen lässt.“ Und zum Thema Teilhabe: „Wir haben alle einen Körper, und damit die Chance, an diesem Prozess der Partizipation mitzuwirken. Im Moment schließen wir ja sogar noch viele aus und könnten noch ganz andere Gruppen aus anderen Kontexten erreichen .“ Noch Luft nach oben? Menschen mit Behinderung, andere soziale Backgrounds oder politische Überzeugungen – tatsächlich sind noch nicht alle Potenziale ausgeschöpft. Doch das Team hat ehrgeizige Ziele. Die Struktur kann Menschen aus weit entfernten Bubbles verbinden und damit vielleicht sogar das Demokratieverständnis fördern – etwa wenn es darum geht, im Prozess Dinge auszuhandeln. „Die Welt wie sie hier bei der Mai:Company ist – so toll ist die Welt da draußen noch nicht“, sagt Dramaturgin Anne Kersting. Die Company arbeitet daran, dass sich das ändert.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur |
Der Sonntag |
25.05.2025 | 09:40 Uhr

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Tanz

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