Er legte umfassende Geständnisse ab, wiederholte seine Bitten um Verzeihung, drückte seine tiefe Reue aus. Auch am Montag, als der Angeklagte ein letztes Mal das Wort hatte, sagte er, ihm sei „der große Schmerz bewusst, den meine Verbrechen ausgelöst haben“.
Doch wie ehrlich meinte es Joël Le Scouarnec, dessen Opfer sich an seinen „mechanischen Wiederholungen“, vorgetragen mit eintöniger Stimme, störten? Eine Antwort darauf konnte Frankreichs bislang größter Kinderschänder-Prozess in den vergangenen drei Monaten nicht geben.
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Tagebücher enthüllen Ausmaß der Übergriffe
Der ehemalige Chirurg hat eingestanden, sich jahrzehntelang in verschiedenen Krankenhäusern überwiegend in Westfrankreich an meist minderjährigen Patienten vergangen zu haben. Detailliert beschrieb er seine Taten in seinen Tagebüchern, welche französische Medien als „Hefte des Grauens“ bezeichnen. 111 Vergewaltigungen und 188 sexuelle Übergriffe zwischen 1989 und 2014 wurden dem heute 74-Jährigen vorgeworfen.
Gerichtszeichnung des Angeklagten Joel Le Scouarnec vom 23. Mai 2025.
Foto: DPA / AFP / BENOIT PEYRUCQ
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Weiter zurückliegende Taten, die er ebenfalls zugegeben hat, sind inzwischen verjährt. Somit geht die tatsächliche Opferzahl über die 299 Personen hinaus, die als Nebenkläger auftraten. 256 von ihnen waren zur Tatzeit unter 15 Jahre alt. Zwei mutmaßliche Opfer haben sich das Leben genommen. „Diese Personen sind tot und ich bin dafür verantwortlich“, sagte Le Scouarnec mit tränenerstickter Stimme. Er erwarte „keinerlei Milde“ von den Richtern.
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An diesem Mittwoch fällen diese das Urteil in dem Mammutprozess im bretonischen Vannes. Staatsanwalt Stéphane Kellenberger hat die Höchststrafe von 20 Jahren, ergänzt mit mehreren Sicherheitsmaßnahmen nach deren Ablauf, gefordert. In den USA, wo Strafen addiert werden, würden dem Angeklagten 4111 Jahre Haft drohen, rechnete er vor. Le Scouarnec habe all die Jahre stets seinen Trieben nachgegeben, in Kindern „wehrlose Objekte zu seiner Verfügung“ gesehen.
Langfristige seelische Folgen nach Missbrauch
Der Spezialist für Darmerkrankungen richtete es meist ein, bei Untersuchungen allein mit den Patienten zu sein. Diese standen oft noch unter Betäubung nach einer Operation, was er ausnutzte, um sie zu betatschen und mit den Fingern zu vergewaltigen. Nur wenige erinnern sich an die Übergriffe, einige berichteten von Angststörungen, andere von „Flashs“ oder Albträumen von dem Mann, der sie eigentlich heilen sollte.
Manche erzählten ihren Eltern von den teils schmerzhaften Berührungen – diese wiegelten ab, es habe sich um „medizinische Gesten“ gehandelt. Le Scouarnec wusste sich durch seinen Status als Chirurg geschützt. „Der Teufel trägt manchmal einen Arztkittel“, so Staatsanwalt Kellenberger.
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Bei ihren Plädoyers am Montag versuchten die beiden Verteidiger nicht, die Taten und ihre Folgen kleinzureden. Aber ihr Mandant „hat mit seinen Geständnissen Mut gezeigt“, betonte Anwalt Maxime Teissier. „Hoffen wir, dass dieser Prozess, auch wenn er nicht alles reparieren konnte, eine Etappe im Aufbau einer besseren Zukunft für die Opfer ist“, sagte sein Kollege Thibaut Kurzawa.
Experten warnen vor Rückfallrisiko des Chirurgen
Le Scouarnec selbst versicherte zwar, er habe „keinerlei Grund, wieder in das zurückzufallen, was ich 30 Jahre lang war“. Vier Experten warnten hingegen vor einem großen Wiederholungsrisiko, sollte der Ex-Mediziner je wieder auf freien Fuß kommen.
Aufgeflogen war er, nachdem er 2017 eine sechsjährige Nachbarin durch den Gartenzaun angegriffen hatte. In einem ersten Prozess wurde er wegen Übergriffen auf sie, eine vierjährige Patientin und zwei Nichten zu 15 Jahren Haft verurteilt.
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Damals fanden die Ermittler seine Tagebücher, in denen er neben seinen perversen Beschreibungen den Namen, das Alter und die Adresse seiner Opfer notierte. Ein Großteil von ihnen erfuhr erst durch die Vorladung bei der Polizei von ihrem Missbrauch. Viele fielen daraufhin in ein tiefes Loch, wie sie im Zeugenstand erklärten.
Im Prozess stellte sich auch die Frage nach der Mitverantwortung der regionalen Ärztekammer, der Gesundheitsagenturen sowie der Krankenhausleitungen. Denn viele Warnzeichen wurden ignoriert. Eine Verurteilung Le Scouarnecs wegen des Besitzes von pädokriminellem Material 2005 hatte keine Folgen. „Das Krankenhaus brauchte einen Chirurgen, er arbeitete korrekt“, verteidigte sich eine ehemalige Leiterin. „Ich hatte ihm nichts vorzuwerfen.“ Le Scouarnec hatte einen guten Ruf – bis zu seinem tiefen und endgültigen Fall.
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