Stand: 27.05.2025 06:00 Uhr
„Ein Tag im April“, der neue Roman des amerikanischen Autors Michael Cunningham, spielt zur Zeit der Corona-Krise. Es scheint so, als ob diese Krise damals familiäre Probleme verschärft hat.
Manchmal führt man Gespräche mit sehr einsam lebenden Menschen, die ein reiches und faszinierendes Innenleben offenbaren. Michael Cunningham braucht ebenfalls nicht viel, um aufregende Innenansichten seiner Romanfiguren aufzublättern.
Einblicke in narzisstische Seelen
Der Roman spielt im Jahr 2019. Das Ehepaar Dan und Isabel lebt mit zwei Kindern in Brooklyn. Violet ist fünf und ihr Bruder Nathan zehn Jahre alt. Im Haushalt lebt noch in einer Mansarde Isabels Bruder Robbie, der aber ausziehen soll, um ein Zimmer für den von ersten Pubertätsanflügen gezeichneten Nathan zu gewinnen. Das ist die Familienkonstellation. Robbie hat sich gerade mit seiner Nichte Violet über die richtige Kleiderwahl am Tag oder am Abend unterhalten:
Violet nickt, aber als Robbie ihr noch einmal über den Kopf streichen will, weicht sie zurück. Seine Belehrung zum Thema Tag versus Abend hat sie als leichten Vorwurf empfunden, und nun ist sie beleidigt. Auf ihrem derzeitigen Stand als fünfjähriges Mädchen findet sie sich regelmäßig in einem Dilemma wieder: Ihr Bedürfnis, recht zu behalten, kollidiert mit ihrem Wunsch, sich die Geheimnisse des Lebens erklären zu lassen.
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So klingt das irgendwie putzig: die Marotten eines kleinen Mädchens. Das Problem in dieser Familie ist jedoch, dass auch die Erwachsenen über den Stand von Fünfjährigen nicht immer hinausgewachsen sind. Sie sind kränkbar, mit hochempfindlichen Wahrnehmungsfühlern ausgestattet, die weit mehr Daten liefern, als die narzisstisch hochgepushten Seelen verarbeiten können. Über die Mutter Isabel heißt es:
Und trotzdem wird sie geliebt und versorgt. Ihr Mann steht jeden Morgen auf, um den Kindern das Frühstück zu machen. Sie wollte es so. Sie wollte heiraten. Sie wollte Kinder. Sie wollte eine Eigentumswohnung in Brooklyn, und sie hat sich geweigert, sich wegen der Hypothekenrate den Kopf zu zerbrechen. Und auch ihren Job wollte sie. Sie war gut darin. Sie hat sich reingehängt und die Konkurrenz ausgestochen. Vielleicht besteht die Lösung darin, das alles weiterhin zu wollen – den Job, die Ehe, die Mutterrolle, die astronomisch teure Handtasche. Und zu lernen, sich für die eigene Klaustrophobie und Enttäuschung nicht selbst zu hassen. Wie oberflächlich. Solche Probleme kann wirklich nur eine Weiße aus der Mittelschicht haben.
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Das Talent zum Unglücklichsein besser verstehen
Irgendwie kann man nicht aufhören, dem Familiendrama weiterhin zu folgen. Es gibt in dem Roman noch ein zweites Paar, dessen Problem es ist, dass eine Frau namens Chess ein Kind ohne anwesenden Vater wollte. Sie hat Garth überredet, die Rolle eines Samenspenders zu übernehmen. Aber als der Sohn Odin auf der Welt ist, möchte Garth ein richtiger Vater für seinen Sohn sein und eine Familie bilden. Chess nennt das eine „romantische Halluzination“.
Spannung entsteht in diesem handlungsarmen Roman dadurch, dass man sich fragt, wie Menschen, die unter praktisch idealen Lebensbedingungen bemerkenswerte Talente zum Unglücklichsein entfalten, mit einer echten Krise – wie durch Corona ausgelöst – umgehen werden. Und diese Krise grollt schon vom Horizont heran wie ein sich näherndes Unwetter. Lesend wünscht man sich einen so ausgefeilten, luziden Wahrnehmungsapparat wie Michael Cunningham, vielleicht auch, um manch einen Mitmenschen zu verstehen, der es einem ansonsten ziemlich schwer damit macht.
Ein Tag im April
von Michael Cunningham
- Seitenzahl:
- 352 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné
- Verlag:
- Luchterhand
- Bestellnummer:
- 978-3-630-87762-4
- Preis:
- 24 €
Dieses Thema im Programm:
NDR Kultur |
Neue Bücher |
27.05.2025 | 12:40 Uhr
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