30 Jahre RMV in Frankfurt
Peter von Freyberg /
28. Mai 2025, 09.00 Uhr
Schmauchschwaden wabern durch den Wagen. Wände und Fensterrahmen sind vergilbt oder, euphemistisch ausgedrückt, im Vintage-Look. Im Frühjahr 1995 fahren in Regionalzügen das HB-Männchen und der Marlboro Man immer mit. Die Fahrgäste lesen Zeitungen, Zeitschriften oder Bücher. Ein Handy hat noch kaum jemand, an Smartphones wagt niemand zu denken, aber irgendwo piepst ein Scall. Zischeln dringt aus den Kopfhörern eines Discmans. „Ba-da-ba-da-ba-be bop bop bodda bop“, stottert der Scatman, passend zum Rattern und Rumpeln bei jeder Weiche.
Schrill quietschend bremst der Zug. Mit Schmackes eine rote Kurbel drehen und drücken, damit die schwerfällige Drehfalttür aufgeht, und über zwei schmale Stufen hinabsteigen. Barrierefreiheit? Denkste! Über den Bahnsteigen klappern die Fallblattzugzielanzeiger. Fahrgastinformationssystem im Zug? Der Blick aus dem Fenster, das man seinerzeit noch öffnen kann. Offen sind auch die Fallrohrtoiletten: Das Pedal für die Spülung öffnet zugleich eine Klappe und befördert die Notdurft auf den Bahndamm.
Doch es gibt auch Fortschritte wie die laufruhigen, neuen Doppelstockwagen. S-Bahnen fahren durch den Offenbacher City-Tunnel bis Hanau. Die gewichtigste Neuerung aber ist am 28. Mai 1995 der Start des Rhein-Main-Verkehrsverbundes (RMV). Nun genügt ein Fahrschein für mehr als 10 000 Haltestellen auf 14 000 Quadratkilometern, also rund zwei Drittel der Fläche Hessens beziehungsweise ein Gebiet etwa so groß wie die Bahamas.
Proteste gegen RMV-Vorgänger
Als 1974 der RMV-Vorgänger Frankfurter Verkehrsbund (FVV) gegründet wurde, gab es heftige Proteste, weil zugleich die Fahrpreise enorm stiegen. Barrikaden auf Tramgleisen, Steine flogen, Polizisten knüppelten blindlings auf Demonstranten wie auf unbeteiligte Passanten. Im Römer kam es zur seltenen Einmütigkeit von CDU und FDP mit einer Abordnung von Kommunisten, die eine Stadtverordneten-Sitzung mit Sprechchören stürmte und Flugblätter verteilte. Die absolute Mehrheit der SPD beschloss jedoch den neuen Verbund mit einheitlichen Tarifen für das geplante Schnellbahnnetz in und um Frankfurt. Die höheren Preise wurden begründet mit den immensen Kosten für den Bau der U-Bahn.
Deren Netz wuchs sukzessive und erreichte am 28. Mai 1978 den Hauptbahnhof. Gleichzeitig nahm die neue S-Bahn ihren Betrieb auf. In der Folge kamen neue Linien hinzu, zwei Tunnel für U- und S-Bahn unterquerten den Main. Ferner wurden die lange Zeit von Stilllegung bedrohten Bahnen nach Königstein und Grävenwiesbach modernisiert und in den FVV integriert. Nichtsdestotrotz: Die verschuldete Bundesbahn verlor Pendler an das Auto, auch wegen des großteils veralteten Fuhrparks (siehe oben).
Frankfurt im Umbruch
Der defizitäre Nahverkehr erlaubte aber kaum Innovationen. Infolgedessen wurden die Staatsbahnen von West- und Ostdeutschland zugleich vereinigt und zerschlagen. Die Bahnreform trennte Güter-, Personen-Fern- und -Nahverkehr sowie Infrastruktur. Den Nahverkehr sollten fortan die Bundesländer finanzieren. Dies führte zur Gründung des Nordhessischen Verkehrsverbundes sowie des RMV für das Gebiet zwischen Marburg und Odenwald: ein Zusammenschluss von elf Städten und 15 Landkreisen, die Verkehrsunternehmen beauftragen und koordinieren.
Erste Maßnahme: einheitlich vertaktete Fahrpläne. 1995 befand sich ganz Frankfurt im Umbruch. Im Römer zerbrach die rot-grüne Koalition. Dies führte zur ersten direkten OB-Wahl, die Petra Roth (CDU) gewann. Auch der Abzug der US Army nach 50 Jahren veränderte die Stadt. Aus ihrem Hauptquartier im IG Farben-Haus sollte ein Teil der Uni werden und auf dem Gelände des Soldaten-Kaufhauses PX ein neues Polizeipräsidium entstehen. Tausende Wohnungen wurden frei und die Rhein-Main-Airbase am Flughafen verkleinert. Das schuf Platz für die Cargo-City-Süd. In der Innenstadt wuchsen der Commerzbank Tower, das Japan Center sowie die beiden Hochhäuser Kastor und Pollux, in Schwanheim eine von Star-Architekt Frank Gehry entworfene Wohnsiedlung.
Veränderung durch Digitalisierung
Die Uni erhielt 1995 Anschluss ans landesweite elektronische Bibliothekssystem „Hebis“. Das Internet steckte zwar noch in den Kinderschuhen, aber „Multimedia“ wurde Wort des Jahres. Auch der RMV trieb die Digitalisierung voran. 1996 akzeptierten Fahrscheinautomaten erstmals EC-Karten. Handy-Tickets folgten 2006 – erst in Frankfurt, bald im restlichen Tarifgebiet. Ab 2016 zeigte die RMV-App auch Mietfahrräder, Carsharing und Taxis an. Für den Empfang unterwegs sorgt seit 2019 der Ausbau des WLAN-Netzes in Bahnen und den 2014 eingeführten Expressbussen.
Eine weitere Folge der Digitalisierung: Fahrplanbücher für Frankfurt wurden 2022 letztmals hergestellt. Doch ob online oder gedruckt: Viele empfinden die Fahrpläne als Makulatur. 2024 gab es im Verbundgebiet doppelt so viele Zugausfälle wie im Vorjahr. „Die Zuverlässigkeit sowohl der Einhaltung der Fahrpläne als auch der Fahrgast-Information sollte der RMV verbessern: Zeitnahe und korrekte Angaben über Ausfälle und Verspätungen“, fordert Barbara Grassel, Regionalvorsitzende des Fahrgastverbands Pro Bahn.
Auch RMV-Geschäftsführer Knut Ringat beklagt: „Eine der größten Herausforderungen aktuell ist die Qualität der Schienenleistungen. Hinzu kommt der Mangel an Personal in den Stellwerken und im Betrieb.“ Was sich sowohl das Geburtstagskind RMV als auch Pro Bahn wünschen: mehr Personal bei Netz-Betreiber DB InfraGO und der Verkehrsgesellschaft Frankfurt (VGF). Beide Unternehmen haben mittlerweile Ausbildungsoffensiven gestartet, doch es dauert, bis sie fruchten.
Forderung nach „Flatrate-Tickets“
1995 gab es noch keine VGF. Sie entstand im Jahr darauf aus der Abteilung Verkehr der Stadtwerke. Was es 1995 gab: ein neues, günstiges Flatrate-Angebot. Das Schönes-Wochenende-Ticket sorgte für volle Regionalzüge an Wochenenden bis 2019. Weiteren Fahrgastzuwachs bescherten ab 2018 das Hessenticket sowie insbesondere das Deutschland-Ticket ab 2023. Dessen Fortführung manifestierte die künftige Bundesregierung jüngst im Koalitionsvertrag. „Die Bestandsgarantie des Deutschland-Tickets gibt uns die Möglichkeit, eine deutliche Vereinfachung des RMV-Tarifs vorzunehmen“, kündigt Ringat an. Luftlinien-Tarife wie in Freiburg oder via eezy.nrw sind beim RMV weder geplant noch gefragt.
„Der Schwerpunkt sollte auf „Flatrate-Tickets“ liegen und nicht auf Einzel-Lösungen für Gelegenheitsfahrgäste“, meint Grassel. Stattdessen wünscht sie sich „S-Bahn-Fahrzeuge mit Toiletten, da die Reisezeiten oft mehr als eine Stunde betragen.“ Laut RMV aber seien WCs anfällig für Vandalismus und bräuchten viel Platz, was angesichts steigender Fahrgastzahlen nachteilig wäre. Für die Zukunft setzt der RMV andere Prioritäten. „Ab etwa 2030 könnte ein autonomes Rufbussystem in der Fläche flexibel 24/7 starre Busfahrpläne mit wenigen täglichen Fahrten ablösen“, prognostiziert Ringat. Dies sei zudem eine Antwort auf den „stärker werdenden Fachkräftemangel“.