Oliver Moody, Berliner Korrespondent der Londoner „Times“, hat sich für sein neues Buch „Konfliktzone Ostsee – Die Zukunft Europas“ mehr als zwei Jahre mit der Politik und den Perspektiven der neun Ostseestaaten beschäftigt. Neben Deutschland zählen dazu Polen, Dänemark, Schweden, Finnland, Estland, Litauen und Lettland sowie Russland – das mit seiner Schattenflotte zur Umgehung von Sanktionen oder mit Sabotageakten für Schlagzeilen sorgt. Sie verstärken das Bild von der russischen Bedrohung, die Moody als Resultat territorialer Begehrlichkeiten und geopolitischer Ansprüche beschreibt, die unter Wladimir Putin laut wurden. Während sich Finnland und die drei baltischen Staaten existenziell bedroht fühlen – was die Abschreckung Russlands für diese Länder identitätsprägend macht – entwickeln sich Krisenszenarien in der deutschen Öffentlichkeit zu einem zentralen Thema, so Moody im Interview mit ntv.de.
ntv.de: Wenn die Deutschen „Ostsee“ hören, denken sie an Ferien – aber nicht unbedingt an den geopolitischen Raum, den Sie beschreiben. Woran liegt das?
Oliver Moody sieht der Zukunft auch nach seinen Recherchen positiv entgegen.
(Foto: Martin von den Driesch)
Oliver Moody: Dass sich „Ostseeraum“ zunächst etwas holprig anhört, könnte daran liegen, dass es den politischen Begriff erst seit 35 Jahren gibt. Die Region war bis dahin seit dem 12. Jahrhundert mehr oder weniger kontinuierlich zwischen den regionalen Großmächten aufgeteilt und zerrissen. Nach dem Ende des Kalten Kriegs wollten einige Politiker, etwa der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Björn Engholm, den Ostseeraum als Inbegriff für die Integration von Ost- und Westeuropa entwickeln. Die Idee war gut, aber viel zu akademisch, um das Bild von Strandkörben und Dünen zu verdrängen.
Bildet die Angst vor Russland den neuen, verbindenden Faktor?
Man kann sagen, dass die Ziele von Engholm & Co. durch 18 Jahre Aggression von Wladimir Putins Regime erreicht worden sind. Inzwischen arbeiten acht Staaten nicht nur ökonomisch, sondern auch militärisch und politisch enger denn je.
Sie heben in Ihrem Buch Estland, Finnland, Lettland und Dänemark als besonders resilient hervor. Warum?
Kein Land ist total resilient. Am nächsten kommt dem Finnlands „comprehensive security“: Politik und Privatwirtschaft entwerfen flächendeckende, sehr detaillierte Pläne für den Ernstfall. Möglich ist das durch eine sehr scharfe Wahrnehmung der Bedrohungen und eine andere Art von Gesellschaftsvertrag, auf eine Art, die Großbritannien oder Deutschland nicht kennen. Grundlage ist Sicherheit als übergeordnete und unverzichtbare Aufgabe aller.
Welche Rolle spielt Deutschland gegenwärtig im Ostseeraum – welche Verantwortung und Potenziale erkennen Sie?
Deutschland ist der Dreh- und Angelpunkt. Dabei sind sich die Deutschen ihrer ökonomischen Rolle für die Nachbarstaaten bewusst. Nun sickert langsam durch, dass man auch die wichtigste Nation für die Verteidigung des Ostseeraums ist – aufgrund der Truppenstärke, als Drehscheibe der Nato und weil man über militärische Fähigkeiten verfügt, die den anderen Staaten fehlen. Deren Wunsch nach einer politischen Führung aus Berlin bleibt allerdings unerfüllt. Damit ist eine aktive und sogar risikobereite Führung gemeint, die die Ideen, Vorstellungen und Ängste der Nachbarländer einbezieht.
Was würde das konkret bei einem russischen Angriff bedeuten?
Ein realistisches Szenario wäre ein Angriff auf die baltischen Staaten. Berlin müsste dann entschlossen reagieren – also so, wie es die Nato vorsieht, und militärisch kämpfen. Auch, damit die Nato am Leben bleibt. Deutschlands militärische Stützpunkte, Verkehrsadern oder Kraftwerke würden dadurch zu potenziellen Zielen von Angriffen. Alleine das wäre ein enormes Risiko, da Deutschland über keine ausreichende Luftabwehr verfügt.
Adolf Hitler bezeichnete die Ostsee als „deutsches Meer“ und wollte sie rundherum beherrschen. Begründet diese historische Last das heutige Desinteresse?
Die Ostsee hat generell einen untergeordneten Platz in der deutschen Erinnerungskultur. Wenngleich es aus historischen Gründen Vorbehalte gibt, werden diese mit Sicherheit nicht von den Nachbarstaaten geteilt. Für Deutschland liegt die Herausforderung darin, in die Zukunft zu blicken und sich seiner Rolle als größte Seemacht der Region bewusst zu werden. Es muss die Führung übernehmen – ohne andere zu dominieren. Gefordert ist gewissermaßen im Kleinen das, was die USA bisher in der Nato im Großen waren: Eine verantwortungsbewusste Schutzmacht für den Ernstfall.
Verhindert „Putin-Versteherei“ Deutschlands vollumfängliche Kooperation im Ostseeraum?
Ich kann diese Frage am besten mit einem Vergleich beantworten: Auch Finnland legte nach dem Kalten Krieg großen Wert auf ein spezielles Verhältnis zu Russland. Diesem Exzeptionalismus mit seiner Besserwisserei, fragwürdigen Lobbygeschäften und Energie- und Rohstoffabhängigkeiten stand Deutschland in nichts nach. Trotzdem sind die Finnen 2022 der Nato beigetreten – eine echte Zeitenwende! Ein gewisser Grad an Putin-Versteherei lässt sich also aushalten, solange sie der Sicherheitspolitik nicht im Weg ist. Was Deutschland derweil am meisten gehemmt hat, ist die Angst der Bevölkerung vor einer kriegerischen Eskalation. Die massive Investition in die Verteidigung bewerten die Nachbarländer inzwischen positiv.
Die deutsche Kampfbrigade in Litauen hat sich bisher nur teuer und träge entwickelt…
Nun hat die Bundeswehr eine größere Einheit dauerhaft im Ausland stationiert. Klar könnte und sollte das schneller gehen. Doch das Tempo ist kein deutsches Einzelproblem.
Was können die Ostseestaaten beispielsweise vom Vereinigten Königreich lernen?
Im April hat die britische Regierung eine neue „UK Resilience Academy“ gegründet, um sich nach finnischer Art auf den Ernstfall vorzubereiten. Der Oberbefehlshaber der britischen Streitkräfte hat gegenüber Vertretern aus Estland, Litauen, Schweden und Finnland jedoch zugestanden, dass die britische Zivilverteidigung unterentwickelt sei. Die drei baltischen Länder hingegen lehren uns den Umgang mit der Zeit: Eine existenzielle Dringlichkeit, gepaart mit einer Offenheit für die Zukunft. Als ich das in der „Times“ schrieb, wollte das britische Verteidigungsministerium, dass der Text von der Website verschwindet.
Wenn man Ihr Buch liest, spürt man Ihre Faszination hauptsächlich für die drei baltischen Staaten. Welcher beeindruckt Sie am meisten?
Am meisten beeindruckt haben mich Litauen und Estland. Ihr Tatendrang und ihr geopolitisches Selbstbewusstsein sind beachtlich.
Glauben Sie, dass Finnland eine ähnliche militärische Bedeutung entwickeln könnte wie die Ukraine – und damit den wichtigsten Abwehrposten gegen Russland darstellt?
Finnland hat seit seinen Kriegen gegen die Sowjetunion eine eigene Strategie der Gesamtverteidigung entwickelt. Das Motto: Auch der stärkste Bär wird nicht versuchen, ein Stachelschwein zu fressen. Ein Angriff lohnt sich nicht. Der Nato-Beitritt hat diese Abschreckung verstärkt. Damit spielt das Land auf einmal innerhalb der Nato eine essenzielle, strategische Rolle.
Hätten die kleinen Länder denn überhaupt eine Chance gegen Russland?
Als ich den Großteil des Buches letztes Jahr geschrieben habe, war der Konsens unter Strategen und Militärexperten: Mit US-amerikanischer Unterstützung hätten wir Chancen, jeden Zentimeter des Nato-Territoriums zu verteidigen, auch wenn es zu einem furchtbar verlustreichen Kampf kommen würde. Mit „Trump 2.0“ ist das Kalkül ein anderes: Er kann die Abschreckung an der Ostflanke untergraben, wenn er nur Zweifel daran streut, dass sich die USA im Ernstfall an Artikel 5 halten würden. Der gegenwärtige Albtraum ist, dass im Gegenzug für ein Friedensabkommen in der Ukraine alle US-amerikanischen Streitkräfte aus Polen und den baltischen Staaten zurückgezogen werden.
Haben Sie seit der Beschäftigung mit dem Buch mehr Angst vor einer sicheren Zukunft?
Eher weniger. Ich gewinne immer Zuversicht, wenn ich ohne Beschönigung den Ernst der Lage erkenne und gleichzeitig Wege zu einer Lösung.
Mit Oliver Moody sprach Peter Littger