29.05.25 – Man kann „Radio Sarajevo“ lesen als Versuch, Mensch zu bleiben in einer Welt, die alles dafür tut, einem genau das auszutreiben. Man kann das Buch lesen als Traumabewältigung. Das Buch tut weh. Das muss es auch, denn einer Erkenntnis kann man sich nicht entziehen: Wer Krieg erlebt, wird ihn nie wieder los.
Keinen Krieg erleben ist nicht selbstverständlich
Tjian Silas Auftritt im Fürstensaal war ein wenig anders als gewohnt – in Jeans, Sneakern und T-Shirt saß er am Lesetisch, und ich fragte mich unwillkürlich, wie groß er wohl den Kontrast dieses barocken Prachtsaals zu dem Stück seines Lebens empfand, über das er gleich lesen würde. Auch Oberbürgermeister Dr. Heiko Wingenfeld ging auf die unterschiedlichen Erfahrungen ein, als er sagte, er selbst – wiewohl älter als Sila – gehöre zu einer Generation, die Krieg nie habe erleben müssen. Dass das nicht selbstverständlich sei, hätten die meisten Europäer spätestens am 22. Februar 2022 begriffen. Umso aktueller sei Silas Buch.
Der OB freute sich über den Besuch einer Schulklasse der Ferdinand-Braun-Schule mit ihrer Lehrerin und dankte den Sponsoren, die ermöglichen, „Literatur im Stadtschloss“ kostenlos anzubieten. Leider war die Akustik im Fürstensaal auch an diesem Abend ein Problem. Für mich ist nach so vielen Lesungen mit mittelmäßiger oder schlechter Tonqualität nicht mehr nachvollziehbar, warum man nicht grundsätzlich nur noch mit Headsets arbeitet. Das ist doch keine Frage des Wollens oder Nicht-Wollens seitens der Autoren, sondern eine der Höflichkeit gegenüber dem Publikum, das kommt, um Autoren zu ‚hören‘!
Man kann nicht alles reparieren
Sila las zunächst seinen Text „Der Tag, als meine Mutter verrückt wurde“, für den er mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis 2024 ausgezeichnet worden ist. Der Text schließt thematisch und chronologisch an „Radio Sarajevo“ an. „Ich schreibe gegen das Vergessen an“, so Sila, denn „Krieg hört nicht auf, wenn die Waffen schweigen.“
Der kurze Text ist berührend, entwaffnend und in seiner Lakonie erschütternd. Sila beschreibt den Verfall seiner Eltern mit geradezu chirurgischer Präzision. Und doch spürt man in jedem Satz seine Zuneigung und Verzweiflung. So werden die endlos vielen Radios, Plattenspieler und sonstigen elektrischen Geräte, die der Vater sammelt, reparieren und wieder verkaufen will, zur Metapher der Kriegsversehrten: Nicht nur Radios kann man manchmal nicht reparieren, Menschen noch viel weniger.
Der Krieg aus der Perspektive eines Kindes
Dann las Sila drei Szenen aus „Radio Sarajevo“, der „Geschichte meiner Kindheit und meines Kriegs“. Als der Krieg 1992 ausbricht, ist Sila 11 Jahre alt. Seine Heimatstadt Sarajevo steht von einem Tag auf den anderen in Flammen. Tijan Sila wagt mit diesem Roman ein literarisches Kunststück, das in seiner Wucht, seiner Intimität und seinem Humor gleichermaßen überzeugt: Er erzählt vom Bosnienkrieg – aber aus der Perspektive eines elfjährigen Jungen. Schon deswegen ist das nie pathetisch, sondern mit einer radikal kindlichen Offenheit, die mehr erschüttert, als es der Bericht eines Erwachsenen je könnte. Der Alltag des erzählenden Jungen ist geprägt von Hunger, Angst und der ständigen Gegenwart des Todes. Und doch will dieser Junge verstehen, leben, lachen. Er sucht nach Halt in einer Welt, in der es genau das nicht mehr gibt, denn auch die Erwachsenen um ihn herum verlieren den Halt.
Besonders eindrücklich sind die Szenen, in denen der Junge versucht, das Unbegreifliche zu begreifen. Etwa, wenn er von Leichen auf der Straße erzählt – nicht schockiert, sondern beinahe sachlich, als sei das eben normal geworden. Oder wenn er beschreibt, wie man aus verbrannten Büchern in der Bibliothek Feuer macht, um nicht zu erfrieren. In einer Szene bringt ihn ein Scharfschütze fast um – nicht etwa beim Kampf, sondern während er auf der Suche nach Süßigkeiten ist. Die Normalität des Absurden zieht sich durch das ganze Buch. Sila macht aus dem Kind aber keinen allwissenden Erzähler. Der Junge versteht vieles von dem, was um ihn herum passiert, nicht. Weil wir Leserinnen und Leser mehr wissen, erzeugt das eine ständige Reibung zwischen kindlicher Weltsicht und erwachsener Tragödie.
Musik und Gewalt
Das Radio ist im Roman die Verbindung zur Welt, zur Hoffnung und zur Erinnerung an ein Leben vor dem Krieg. Musik wird zum emotionalen Rettungsanker. Das Radio spielt zwar viel jugoslawische Volksmusik, aber eben auch westlichen Pop und Rock – etwa Iron Maiden, Metallica, Michael Jackson, Guns N’ Roses oder David Bowie. Dessen „Suffragette City“ erklingt, als der Krieg beginnt. Die Musik wird so zur Parallelsprache für alles, was das Kind nicht in Worte fassen kann.
Schon bevor der Krieg ausbricht, macht der Junge viele Gewalterfahrungen. Sein Vater schlägt ihn viel und oft. Der Krieg ist deshalb nur eine Eskalation dessen, was der Junge schon kennt: dass Macht mit Gewalt durchgesetzt wird. Die Familie ist hier kein sicherer Ort – sondern einer, an dem Schmerz und Ohnmacht beginnen. Die Gewalt im Elternhaus zieht sich wie ein düsterer Schatten durch das ganze Buch. Sie bricht nicht nur Körper, sondern auch Seelen. Mit dem Ausbruch des Krieges verlagert sich die Gewalt ins Öffentliche, aber sie ändert ihr Gesicht kaum. Männer mit Waffen bestimmen, wer leben darf. Wer auf die Straße geht, riskiert erschossen zu werden. Häuser stürzen ein, Menschen verhungern, Kinder sterben beim Spielen. Sila beschreibt diese Gewalt oft beiläufig und lakonisch, gerade das macht sie so erschreckend. Wenn der Junge berichtet, wie er in einer Pfütze Blut steht oder seine Freundin nicht mehr zur Schule kommt, weil sie erschossen wurde, klingt das nicht nach Entsetzen. Es klingt nach Gewöhnung. Und das ist das eigentlich Verstörende: wie schnell Menschen sich an das Grauen anpassen. Gewalt zerstört nicht nur Körper, sondern auch Beziehungen, Träume und die Sprache. Die Figuren stumpfen ab, viele verfallen in Zynismus, andere flüchten sich in Drogen oder religiösen Fanatismus. Manche, wie der jugendliche Erzähler, klammern sich an Musik – an alles, was noch an ein anderes Leben erinnert.
Lange, bevor man das Buch aus der Hand legt, weiß man: Krieg ist eine lose-lose-Situation. Es gibt hier nichts zu gewinnen, am Ende sind alle Verlierer. Wenn man mit seiner Todesangst fertigwerden will, braucht man – so wie Tijan Sila in seinem Text über den Wahnsinn seiner Mutter – ein Mantra: „Bleib ruhig, bleib cool, bleib stabil, bleib stark“.
Schon mal vormerken: Am 05. Juni um 19:00 Uhr – erhält Riccarda Messner den Fuldaer Literaturpreis für ihr Buch „Wo der Name wohnt“. (Jutta Hamberger) +++