Nicole Fahrmeir (Foto: privat)
„Ich bin in Augsburg aufgewachsen und habe mein Jüdischsein bis zu meinem 16. Lebensjahr nicht offen ausgelebt. Während meiner Schulzeit war ich deswegen nicht von Antisemitismus betroffen. Mein jetziger Freund, der sein Judentum seit seiner Schulzeit offen auslebt, wurde hingegen in der Schule mehrmals offen von Mitschülern und auch einem Lehrer mit antisemitischen Aussagen konfrontiert.
Antisemitismus erlebe ich vor allem über Social Media. Wenn ich auf Instagram oder Tiktok unterwegs bin, sehe ich dort ganz viele antisemitische Kommentare. Auch unter Beiträgen, die gar nichts mit jüdischen Menschen zu tun haben. Etwa unter Beiträgen der Tagesschau, dabei ist das ja eigentlich nur ein Nachrichtenkanal. Zudem steht an meiner Uni in Würzburg seit einigen Tagen wieder ein propalästinensisches Protestcamp. Die dort auftretenden Speaker teilen auf Social Media Bilder von Karten, auf denen nur Palästina zu sehen und Israel einfach ausgelöscht ist.
Die Bedrohung kommt aber natürlich nicht nur von solchen, vermeintlich linken Gruppen, sondern von verschiedenen Seiten. So beschäftige ich mich jeden Tag damit, ob ich auswandern soll, wenn die AfD an die Macht kommt. Die Entscheidung, aus einem Land auszuwandern, an das ich durch Freunde und Familie gebunden bin, ist aber natürlich keine leichte. Vor dem 7. Oktober war ich mir sicher, dass ich irgendwann mal nach Israel auswandern werde. In das Land, das ich als meine Heimat ansehe. Ob ich im Hinblick auf die Lage in Israel noch immer in dieses Land auswandern will, frage ich mich in den letzten anderthalb Jahren aber regelmäßig. In ein anderes Land außer Israel auszuwandern, kann ich mir gleichzeitig nicht vorstellen.
Hass gegen jüdische Menschen gibt es zwar schon lange, doch heute gibt es mit Social Media ganz andere Möglichkeiten, ihn zu verbreiten. Zeitzeugen sagen oft: Mit Hass hat es damals auch angefangen. Das ist eine Sache, die mir wirklich Angst bereitet. Um dem Hass etwas entgegenzusetzen, braucht es viel mehr Aufklärung und Austausch an Schulen und Universitäten. So fand in der Woche vom 19. Mai an mehreren deutschen Unis die jüdische Campuswoche statt, die von der jüdischen Studierendenunion veranstaltet wurde. Mein Appell lautet: Hass fängt da an, wo Wissen aufhört.“
Heinz Nossen, 79 Jahre alt, Vorsitzender des Fußballvereins TuS Bar Kochba, wohnt in Zirndorf bei Nürnberg:
Heinz Nossen (Foto: privat)
„Jeder meiner Bekannten weiß, dass ich Jude bin. Den Davidstern trage ich offen. In meinem persönlichen Umfeld erlebe ich keinen verstärkten Antisemitismus, aber dafür auf Facebook in den Kommentaren bei jüdischen Zeitungen. Seit 1998 bin ich Vorsitzender des Fußballvereins TuS Bar Kochba in Nürnberg. Auf unseren Trikots ist der Davidstern natürlich auch drauf. An meiner Haustür hängt eine Mesusa, ein kleines Kästchen, mit einer Pergamentrolle drinnen, auf der das Gebet Schma Israel (Höre Israel) geschrieben steht. Viele haben ihre Mesusa nach dem 7. Oktober abgenommen – ich nicht. Die Post bringt mir oft ein muslimischer Postbote, mit dem ich mich sehr gut verstehe. Der weiß auch, dass ich Jude bin.
Ich bin in Polen in Breslau geboren und 1953 mit meinen Eltern nach Nürnberg geflohen. Hier habe ich jahrelang bei dem Fernsehhersteller Grundig gearbeitet. 1969 hat dort ein unbekannter Kollege ein Hakenkreuz auf meinen Arbeitsplatz gemalt. Ich habe das Hakenkreuz fotografiert und in meiner eigenen jüdischen Jugendzeitschrift Schalom, die ich damals herausgegeben habe, veröffentlicht. Meine Vorgesetzten wollten daraufhin wissen, wieso ich mich nicht an sie gewandt habe. Ich entgegnete: Was hättet ihr denn gemacht? Gar nichts hättet ihr gemacht!
Mit meinem Umfeld diskutiere ich natürlich über die heutige politische Lage. Auch über israelische Politik. Solange die Diskussion objektiv bleibt, ist das für mich in Ordnung. Ich kritisiere die israelische Regierung ja genauso. Aus meiner Sicht sollte die israelische Regierung lieber heute verschwinden als morgen – insbesondere die beiden Rechtsradikalen in der Regierung, Finanzminister Bezalel Smotrich und Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir. Auch Benjamin Netanjahu, der nur an seinem Posten klebt, sollte langsam zurücktreten.
Was den Rechtsradikalismus in Deutschland angeht, habe ich schon 1971 zu meiner Frau gesagt: Täusche dich nicht, wir haben hier garantiert immer noch zwanzig Prozent Nazis. Daran hat sich nichts geändert. Wegzuziehen, falls die AfD an die Macht kommt, kommt für mich aber nicht infrage. Ich bin in einem Alter, in dem ich vor der AfD keine Angst mehr habe. Aber ich hoffe, dass meine Mitbürger so intelligent sind, dass die AfD nicht an die Macht kommt. Von einem AfD-Verbot halte ich relativ wenig, denn man kann die Menschen ja nicht verbieten, der Geist bleibt.“
Rachel O., 68 Jahre, Diplom-Sozialpädagogin, wohnt in Würzburg:
Rachel O. (Foto: privat)
„Ich fühle mich als Jüdin nicht mehr sicher, auch wenn ich persönlich zum Glück bisher nicht antisemitisch attackiert worden bin. Nach dem 7. Oktober bin ich vorsichtiger geworden, mich als Jüdin zu erkennen zu geben. Ich trage meine Kette mit dem Davidstern nur noch verdeckt. Wenn ich von der Synagoge nach Hause gehe, bin ich sehr vorsichtig. Ich schaue sehr genau, wer hinter mir ist und gehe nicht immer den gleichen Weg. Es gab ja Übergriffe auf Wohnungen von Juden, wenn auch nicht bei uns in Würzburg. Auch unsere Gemeinde ist geschützt wie eine Festung mit Überwachungskameras, Sicherheitsglas und doppelten Sicherheitstüren. Vor der Tür der Synagoge stehen bei jeder Veranstaltung Polizisten mit Maschinengewehren.
An der gesellschaftlichen Situation finde ich den wachsenden Widerstand gegen und die Wut auf Israel schlimm – das ist der ideale Nährboden für Antisemitismus. Wer gegen Israel ist, der ist auch gegen Juden, für mich gibt es da keinen Unterschied. Wenn ich diese Parolen höre, wie Free Palestine, da läuft es mir kalt den Rücken runter. Weil da ja nichts anderes dahintersteht als ‚Juden raus‘. Das hatten wir schon einmal. Und die Leute, die das nachplappern, die wissen gar nicht, was sie da auslösen bei jüdischen Menschen. Ich bezweifele, dass diese Leute die politischen Zusammenhänge und die Geschichte des Staates und des Volkes Israel kennen.
In unserer Gemeinde sprechen wir natürlich auch über israelische Politik. Dort können wir uns unsere Gefühle vom Herzen reden. Es ist ein großer Schmerz, dass da immer noch Menschen in den Händen der Hamas-Terroristen sind. In der Öffentlichkeit müssen wir uns so bedeckt halten, mit unserer Meinung über das, was da in Israel passiert, weil man uns nicht versteht oder uns nicht glaubt. Die einseitige, antiisraelische Berichterstattung in den meisten Medien wirkt: Die Täter-Opfer-Umkehr funktioniert immer noch. Da fühlen wir uns oft ohnmächtig. Wir haben natürlich auch großes Mitleid mit den Menschen in Gaza: Die Nachbarstaaten nehmen sie nicht auf, Hilfslieferungen werden von der Hamas abgefangen und sie werden als Opfer missbraucht.
Das Erstarken der AfD macht mir natürlich auch Sorgen. Aber ich habe nicht vor, Deutschland zu verlassen. Hier ist mein Lebensmittelpunkt, hier habe ich meine Familie. Ich möchte hier nicht mehr weg. Ich will einfach ein friedliches, jüdisches Leben hier in Würzburg mit meiner Gemeinde führen.“
Katarina F., 20 Jahre alt, macht eine Ausbildung zur operationstechnischen Assistentin, wohnt in einer Kleinstadt in der Oberpfalz und möchte nicht erkannt werden:
Katarina F. (Foto: privat)
„Auf Instagram und Tiktok sehe ich viele propalästinensische Videos. Zum Beispiel zu Israels Auftritt beim Eurovision Song Contest. Unter den Videos schreiben Leute dann ‚Wie kann ein Mensch ein Land repräsentieren, das einen Genozid betreibt‘ oder ‚Israel hat sich hoch gekauft, wie kann es sein, dass dieses Land so viele Stimmen bekommt‘. Ich versuche dann gegenzuhalten und antworte, wenn die Performance gut war, dann stimmen halt viele Leute für das Land ab.
Dann kommt oft als Antwort zurück, es ginge ja trotzdem um das Politische. Ich glaube leider nicht, dass sich an diesen verhärteten Fronten etwas ändern wird. Es gibt diese zwei geteilten Meinungen zu Israel, und man muss meiner Meinung nach auch beide Seiten anhören. Aber ich glaube, wenn jemand an seiner Meinung festhängt, kann man die Meinung der Person nur schwer ändern.
Zur Schule gegangen bin ich auf eine katholische Mädchenschule. Dort war ich die einzige jüdische Person, auch wenn ich selbst nicht religiös bin und den jüdischen Glauben nicht praktiziere. Wenn alle anderen evangelischen oder katholischen Religionsunterricht hatten, hatte ich eine Freistunde. Ich bin stattdessen am Nachmittag zum Religionsunterricht in die Synagoge gegangen. Am Anfang haben die anderen Kinder gesagt: Hä, warum hast du jetzt frei, das ist voll unfair. Ich musste das dann erst mal erklären. Die Reaktionen waren dann so: Wow, du bist jüdisch, ich kenne sonst keine jüdische Person, wie lebst du? Ich meinte dann immer: Ich lebe ganz normal.
Was ich tun würde, wenn die AfD an die Macht kommt, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Es würde mir schwerfallen, meinen Heimatort zu verlassen. Ich bin hier geboren und aufgewachsen, habe hier meine Freunde. Und vielleicht sind dann in anderen Ländern, wie Italien oder Frankreich auch rechtsextreme Personen an der Macht. Ich kann mir aber unabhängig von der AfD vorstellen, irgendwann auszuwandern, vielleicht nach Südostasien oder Südamerika. Wenn die AfD an die Macht käme, würde ich mir vielleicht etwas früher konkrete Gedanken machen.“