Was Klassik im Tanz bedeutet, ist klar definiert: Spitzenschuh, Tutu, großes Ballett. Doch zwischen dem 19. Jahrhundert und der Gegenwart ist doch einiges passiert, was mittlerweile ebenfalls zum Kanon dieser Kunstform geworden ist. Das Festival ImpulsTanz in Wien hat sich da in der Bezeichnung mit dem Englischen beholfen. Unter dem Wort „Classics“ wurde dort 2023 die Vorstellung von „Fase“ gelabelt, der ersten öffentlich gezeigten Arbeit von Anne Teresa de Keersmaeker und ihrer Kompanie „Rosas“, uraufgeführt 1982. Das Dance Festival München hat sich nun ebenfalls diesen Klassiker gegönnt, den es seit 2018 in einer Neubesetzung ohne Keersmaeker selbst auf der Bühne wieder gibt. Hier unter dem Label „Iconic“.
Die Choreografie zu vier Kompositionen des Minimal-Music-Pioniers Steve Reich, die an zwei Abenden im Volkstheater das erste Mal in München gezeigt wurde, ist streng, stilistisch konsequent und schwebt auf eine gewisse Art über Trend und Mode. Das zeigt sich schon in den Kostümen, schwingende graue Kleider zu weißen, klobigen Turnschuhen oder Anzughosen und lockere Blusen zu Absatzstiefeln, die heute kein bisschen aus der Zeit gefallen wirken. Das zeigt sich aber vor allem im Stück selbst.
In ihrem ikonischen Stück eignet sich Anne Teresa de Keersmaeker dem Prinzip von Steve Reichs Minimal-Music an. (Foto: Albert Vidal Vertex Comunicacio)
Eigentlich nutzt Keersmaeker ein Grundprinzip des Tanzes. Sie hat vier minimalistische Stücke von Steve Reich, entstanden zwischen 1966 und 1972, genommen und Musik und Körpersprache zusammengeführt. Sie eignet sich dabei das Prinzip dieser Musik an, erschafft eine für jeden Teil eigene, aber ebenso wiedererkennbare Bewegungsform darauf und lässt die beiden Tänzerinnen die Musik als Bewegung auf einer Bühne abbilden. Doch in sich sind die vier Teile des Stücks – Klavier, Sprache, Geige und Klatschen – so komplex und anspruchsvoll, dass das Zuschauen zur hellen Freude wird.
Eröffnung des Dance-Festivals München
:Dauerhüpfen gegen die Schwere der Welt
Was bringt es, zu tanzen angesichts all der Katastrophen? Das Dance-Festival München liefert überzeugende Gründe dafür – zumindest am Eröffnungsabend in zwei konträren Stücken.
Das Gehirn liebt Wiederholungen und liebt es gleichzeitig, wenn darin kleine Abweichungen und Variationen auftauchen. Steve Reich lässt seine musikalischen Phrasen endlos wiederholen, verschiebt sie aber gegeneinander, was wirr und gleichzeitig vertraut ist. Keersmaeker macht mit ihren Bewegungsmustern dasselbe. Diese Phasenverschiebungen ziehen sich mal synchron zur Musik, mal gegenläufig durch das Stück. Allein der mentale Kraftakt der beiden Tänzerinnen Yuika Hashimoto und Laura Maria Poletti, dabei nicht die Orientierung zu verlieren, ist so beeindruckend und virtuos wie eine klassische Variation.
Wirkt das Stück gegenwärtig? Nein. Heute funktioniert Tanz anders, wenn er gegenwärtig sein will. Gebrochener, agitativer, politischer und poppiger. „Fase“ aber hat etwas Überzeitliches. Hat eine grundlegende, tief befriedigende ästhetische Schönheit, abseits von Style.