Die Gefahr in den Schweizer Alpen ist noch nicht gebannt: Nach dem gigantischen Gletscherabbruch im Lötschental rechnen die Katastrophenbehörden am frühen Freitagmorgen mit einer besorgniserregenden Entwicklung.
Die meterhohen Fels- und Eismassen, die am Mittwoch von Berg stürzten, haben das Flussbett der Lonza verstopft. Der See, der sich dahinter gebildet hat, dürfte „in den frühen Morgenstunden“ überlaufen, wie Christian Studer von der Dienststelle Naturgefahren im Lötschental sagte.
Der Pegelstand des Sees steige ständig, die meisten der wenigen übriggebliebenen Gebäude im Dorf Blatten stünden bereits im Wasser.
Studers Angaben auf einer Pressekonferenz zufolge steigt das gestaute Wasser der Lonza bei Blatten um etwa 80 Zentimeter pro Stunde.
Die Behörden prüften mit Spezialisten verschiedene Szenarien, wie die Seeentleerung stattfinden könnte, sagte Studer. „Ziel ist es, diesen Prozess möglichst gut zu antizipieren und die Sicherheit der Bevölkerung weiter unten sicherzustellen.“
Unterdessen wurden in Blatten selbst nach Behördenangaben die vom Gletscherabgang verschonten Häuser durch das aufgestaute Wasser der Lonza zerstört. „Das Wasser überflutet nun die Häuser, die vom Großereignis zunächst verschont geblieben sind“, sagte der Gemeindepräsident der im Lötschental gelegenen Kommune Ferden.
Geologen hatten vorher gesagt, dass das Wasser über den Schuttkegel schwappen und eine Flutwelle auslösen könnte. Möglich ist auch, dass das Wasser Schutt mitreißt und sich eine Gerölllawine ins Tal ergießt. Heute wurden bereits weitere Häuser im Tal in Gefahrenzonen geräumt.
Satellitenaufnahme des teilüberfluteten Ortes Blatten in den Schweizer Alpen.
© AFP/Handout/Satellite image ©2025 Maxar Technologies
Zuvor hatte der Geologe Flavio Anselmetti von der Universität Bern bereits das Worst-Case-Szenario beschrieben. „Das Schlimmste wäre, dass sich Wasser aufstaut bis zur Krone des Bergsturzdammes“, sagte Anselmetti dem Schweizer Radiosender SRF. Der Fluss könne sich dann in das Gestein-Eis-Gemisch einschneiden.
Wir haben das Dorf verloren, aber nicht das Herz.
Matthias Bellwald, Gemeindepräsident von Blatten
„Was drohen könnte, wäre, dass der Damm durch dieses Einschneiden instabil wird, dass Teile dieses Dammes mitgerissen werden, dass er kollabiert und dann könnten sehr starke Flutwellen oder Murgänge von diesem Seeausbruch für die Gemeinden, die im unteren Tal liegen, drohen.“
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Die Behörden haben vorsichtshalber bereits Einwohner der Gemeinden Wilder und Kippel sowie von der Fafleralp in Sicherheit gebracht. Es handelt sich um 16 Personen, wie der regionale Führungsstab Lötschental mitteilte. Das Gestein- und Eisgemisch liegt meterhoch auf einer Länge von zwei Kilometern und einer Breite von 200 Metern.
Das Dorf Blatten war angesichts des drohenden Felsabbruchs vergangene Woche geräumt worden. 90 Prozent der Häuser wurden nach dem gewaltigen Naturereignis am Mittwoch von einer meterhohen Schuttschicht bedeckt. Die anderen stehen inzwischen im Wasser, weil der Schuttkegel das Flussbett der Lonza versperrt hat und das Wasser sich dahinter staut.
Ein 64 Jahre alter Mann, der sich trotz der Warnungen in der Gegend aufhielt, wird noch vermisst. Die Suche musste vorübergehend eingestellt werden, wie die Polizei mitteilte. Die Entscheidung fiel „aufgrund der anhaltenden Instabilität des Absturzmaterials aus Eis, Fels und Wasser und der damit verbundenen Gefährdung der Einsatzkräfte“.
Der Gletscherabbruch hat die schlimmsten Erwartungen der Behörden noch übertroffen. „Das Unvorstellbare ist heute eingetroffen“, sagte der Blattener Gemeindepräsident Matthias Bellwald in einer Pressekonferenz im Nachbarort Ferden.
Nach einem massiven Fels- und Eisrutsch, der einen Großteil des Dorfes Blatten in der Schweiz am 29. Mai 2025 verschüttet hat, sind nur noch wenige Häuser zu sehen.
© AFP/ALEXANDRE AGRUSTI
Blatten liege unter einem sehr großen Schuttkegel. Obwohl die Katastrophe erst wenige Stunden zurücklag, zeigte sich Bellwald optimistisch. „Wir haben das Dorf verloren, aber nicht das Herz“, sagte er und rief zum Wiederaufbau auf.
Bewohner von Blatten wurden schon in Sicherheit gebracht
Die Schweizer Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter drückte den Bewohnern von Blatten ihr Mitgefühl aus. „Es ist schlimm, wenn man seine Heimat verliert“, schrieb sie auf der Plattform X.
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Der öffentlich-rechtliche SRF zeigte Aufnahmen von einer riesigen Staubwolke, die sich mit den Schuttmassen den Berg hinabwälzte. Laut dem Schweizerischen Erdbebendienst wurde die Erde mit einer Stärke von 3,1 erschüttert. Zuvor waren bereits in der Nacht zum Dienstag größere Mengen an Eis, Fels, Schnee und Wasser talwärts gestürzt.
Die rund 300 Einwohner des Dorfes Blatten haben alles verloren. 90 Prozent des Dorfes, rund 130 Häuser sowie die Kirche, sind unter einer Schuttschicht begraben. Sie sei zwischen 50 und 200 Metern dick, sagte Naturgefahrenchef Raphaël Mayoraz bei einer Medienkonferenz. Der Kegel ist zwei Kilometer lang und rund 200 Meter breit. Insgesamt donnerten nach Schätzungen drei Millionen Kubikmeter Fels, Geröll und Eis des Birchgletschers ins Tal.
Seit die Eis- und Gerölllawine am Mittwochnachmittag mit gigantischem Getöse und einer Staubwolke wie nach einer Explosion ins Tal donnerte und Blatten unter sich vergrub, werden die Bewohner abgeschirmt und betreut.
Lötschental
Das Lötschental ist auch ein Urlauberparadies, im Sommer mit Wander- und Kletterrouten sowie Bergseen und viel unberührter Natur und mit Blick teils auf 40 Viertausendergipfel, im Winter mit kilometerlangen Skipisten. Es war bis zur Eröffnung des Lötschbergtunnels 1913 und dem Bau einer Straße in den 1950er Jahren nur schwer erreichbar. (dpa)
Die wenigen verbliebenen Häuser sind nach Angaben der Behörden inzwischen durch den wachsenden Wasserstau der Lonza überflutet. Blatten ist das letzte Dorf im 27 Kilometer langen Lötschental. Es liegt auf rund 1500 Metern.
Auslöser dieser Ereignisse war ein relativ langsam verlaufender Bergsturz am rund 3.800 Meter hohen Kleinen Nesthorn, oberhalb des nun abgestürzten Birchgletschers. Durch das Abbröckeln des Kleinen Nesthorns lagerten sich in den vergangenen Tagen rund neun Millionen Tonnen Schuttmaterial auf dem Gletscher ab und übten Druck auf die Eismassen aus, wie Keystone-SDA berichtete.
Schweizer Gletscher schmolzen wegen der Klimaerwärmung zwischen 2022 und 2023 so stark wie im gesamten Zeitraum von 1960 und 1990 und verloren zehn Prozent ihres Volumens.
Lesen Sie bei Tagesspiegel Plus: „Tendenz zu einem sehr heißen Sommer“ Was jetzt meteorologisch auf Deutschland zukommen könnte Augenzeugen des Klimawandels Europa, wie wir es bisher nicht kannten Gebirge speichern weniger Wasser Sitzen wir bald auf dem Trockenen?
Die Naturkatastrophe sei historisch „beispiellos“, sagte Raphaël Mayoraz, ein Naturgefahren-Experte des Kantons Wallis. Er wies darauf hin, dass die Gefahr für das Tal auch nach dem Gletschersturz noch nicht gebannt sei. Denn durch den Abbruch wurde der Fluss Lonza auf einer Länge von etwa zwei Kilometern stark aufgestaut.
Der Abgeordnete Beat Rieder aus dem Nachbarweiler Wiler sprach im Fernsehen von einer Jahrhundertkatastrophe. „Es ist ein Ereignis, das das Tal seit Beginn der Geschichtsschreibung nie erlebt hat“, sagte er im Schweizer Fernsehen. „Die Leute haben alles verloren, was man sein ganzes Leben aufgebaut hat“, sagte er. „Man blickt auf den Bildschirm und kann nichts machen, das ist ein schwerer Schock.“ (dpa, AFP, lem)