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Seite 1Kunst der Stunde
Seite 2Üppige Beute für den Kopf
Am sechsten Tag, am Ende meines langen Spazierganges durch Madrid, schaue ich auf ein kleines Kind. Es ist in Handtücher eingemummelt; eine Frau hält es auf dem Schoß, eine zweite beugt sich darüber, und offenbar können die drei sich wirklich gut leiden. Sie sitzen in einem Boot, das auf den Strand gezogen wurde. Nun kann man sich ja nicht aussuchen, welche Kunst einen im Museum kalt lässt und welche einen berührt. Dieses Bild hier erwischt mich jedenfalls voll. Ich kann den Wind über die Segel streichen hören und das Wasser über den Kies schwappen. Da sind so viel Ferienstimmung und Liebe in dem Bild, dass sie zu mir herüberwehen. Auf dem Erklärschild dazu ist bloß vermerkt: „Nach dem Bad, Valencia, Sommer 1902, Öl auf Leinwand“. Neben mir steht ein Paar, Amerikaner offenbar; die Frau wirkt so hingerissen wie ich: „Einfach wunderschön!“, murmelt sie. „Impressionismus“, zischt er: „Malerei für Menschen, die zu bequem sind, sich intellektuell mit richtiger Kunst auseinandersetzen.“
Keine Ahnung, ob er recht hat. Ich verstehe null von Kunst. In der Schule hatte ich nie Kunst-Unterricht, erst fiel er aus wegen Lehrermangels, dann gab es stattdessen Technisches Werken, und wir übten Seemannsknoten. Und in meiner engsten Familie sah man keinen Sinn in hoher Geistesbildung. Gerieten wir doch in ein Museum, musste das Eintrittsgeld wieder hereingeholt werden. Dazu starrten wir jedes einzelne Werk gründlich an, bis die Farben noch aus dem buntesten Gemälde zu schwinden schienen, eine einzige ermattende Qual. Erst später fand ich meine eigene Besichtigungsmethode: Viel schöner geht es, wenn ich ohne Ehrfurcht und Erwartungen durch ein Museum spaziere, bis ich auf ein Werk stoße, an dem mein Blick hängen bleibt. Mit Glück habe ich es sogar für mich, weil es nicht das berühmteste der Sammlung ist. Das schaue ich mir dann ausgiebig an, lese darüber und warte, ob es etwas macht mit mir. Mit einzelnen Museen funktioniert das gut. Aber was, wenn ich mir so ein paar Tage lang eine ganze Stadt vornehme? Das fragte ich mich, schaute auf die Europakarte und wählte Madrid, denn da war ich noch nicht gewesen.
Als Erstes laufe ich zum Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía; es liegt nur ein unterwegs gegessenes Schinkenbocadillo entfernt von meiner Unterkunft im Viertel Lavapiés. Durch kleine Straßen gehe ich, hügelab, hügelauf, hügelab; die Häuser sind in warmen Farben verputzt, gusseiserne Geländer an den Balkonen, es sieht durch und durch nach Süden aus. Eine Viertelstunde vor Öffnung stehe ich vor dem fünfgeschossigen Kasten mit kleinen, vergitterten Fenstern, ein ehemaliges Krankenhaus. Innen zeigt sich, das kann ein langer Spaziergang werden: Das Gebäude besteht aus vier Flügeln um einen Hof. Ich beginne im vierten Stock und bin dort der erste Besucher. Die Installationen, die hier am Boden liegen oder als orange-blaue Vorhangbahnen von der Decke hängen, sind aus dem Kunststoff gemacht, aus dem auch Bojen und Pontons für Pools bestehen. Der Kunststoffgeruch, so eine Melange aus Zeltplane und Chlorwasser, hängt im Saal. Vielleicht kapiere ich das Werk nicht ganz. Doch es erinnert mich an das herrliche Gefühl, frühmorgens in einem Schwimmbecken allein meine Bahnen zu ziehen.
Damit könnte ich, getreu meiner Besichtigungsstrategie, das Haus schon wieder verlassen. Doch die Schwimmbecken-Ruhe ist so meditativ, dass ich in einen Flow gerate und weitere Bahnen ziehe, die Stockwerke hinab. Vorbei an einem Dalí. Verstehe nichts von dem Durcheinander auf dem Bild. Gerhard Richter war offenbar auf Lanzarote, und es sieht aus, als sähe er arg verschwommen.
Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 14/2025. Hier können Sie die gesamte Ausgabe lesen.
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In einem Saal dann: Riesengedränge vor Picassos Guernica! Genau die Sorte Museumsaction, die ich anstrengend finde. Ich biege rechtzeitig ab und merke: Dalí und ich können doch miteinander. Muchacha de espaldas heißt das Bild, „Mädchen von hinten“; und das Mädchen, die Frau, sitzt auf einer Dachterrasse. Ich schaue ihr auf den Rücken, das Kleid ist ihr von der rechten Schulter gerutscht, und an ihr vorbei fällt der Blick auf Häuser eines Dorfes, im Hintergrund ein Feld. Ich google das Bild und lese, darin steckten Symbole von Verletzlichkeit und turbulenten Emotionen. Fühle ich null. Stattdessen möchte ich der Frau ein Glas Rosé mit Eiswürfeln darin reichen und sagen, dass das Abendessen gleich fertig ist.
Nach unverhofften vier Stunden im Reina Sofía hänge ich das Museo Thyssen-Bornemisza hintendran, gelegen in einem ehemaligen Palast der Herzöge von Villahermosa. Da hängen Lieblingsstücke dieser Thyssens, quer durch die Epochen. Das ist nett für einen wie mich. Am längsten stehe ich vor Straßenszenebildern des US-Amerikaners Richard Estes: ein Burger-Imbiss an einer Häuserecke, parkende Autos in San Franciscos Chinatown, alles so bunt wie in echt, aber vielleicht noch leuchtender. Finde ich zwar wirklich beeindruckend, verstehe aber nicht: Wenn schon so fotorealistisch malen, warum nicht gleich knipsen? Geht es darum, Pinsel und Auge und Realität so dicht wie möglich zusammenzubringen? Oder ist da doch eine Spannung zwischen der Welt draußen und der auf den Bildern, die ich nur nicht sehe?
Mein Favorit hier ist Die Kornernte von Léon-Augustin Lhermitte, auch wenn da nicht viel passiert: Drei Männer mähen Getreide, der vordere schärft seine Klinge nach. Es sieht warm aus, nach Ruhe, und als kribbele der Staub vom Korn trocken in der Nase. Käme ich in dieses Bild hinein, vielleicht würde ich erst eine Weile zuschauen. Und dann nähme ich eine Sense und arbeitete mit, um ein Teil dieses steten Rhythmus zu werden.