Wir paddeln der Sonne entgegen. So sagt es die Vorturnerin in Messehalle drei, vor ihr rund 40 Personen in Sportklamotten, aber ganz klar: ohne Boot. Niemand paddelt hier wirklich, aber beim „Ajambo Dance“ wird mit Stange ein Workout absolviert, das einen durchaus daran erinnern könnte. Ein paar Meter weiter springt ein Junge, kaum fünf Jahre alt, bei einem Parcours auf einen Kasten, der fast größer ist als er selbst. Die Älteren lachen, der Junge stürmt weiter. Überall hüpfen und schwingen und hängen sie, auf zahlreichen Matten und Geräten beim Turnfest in Leipzig.
Paddeln ohne Boot beim „Ajambo Dance“. (Foto: Saskia Aleythe)
Und wer gerade Pause macht, der schaut sich anderweitig um: bei einer Rhönradshow etwa. „Das ist so cool, das sehe ich immer auf Tiktok“, sagt ein Mädchen mit grauer Jogginghose und geflochtenen Haaren. Sie macht eigentlich Leichtathletik. Aber warum nicht auch Rhönradturnen? Der Spaß an der Bewegung, an keinem anderen Ort tritt er so konzentriert in Erscheinung wie hier.
Inspiration in der Pause: Rhönradturnerinnen auf der Leipziger Messe. (Foto: Saskia Aleythe)
Deutschland hat Lust auf Sport, dafür sprechen auch die Zahlen der vergangenen Jahre: Die Sportvereine kommen insgesamt auf mehr als 28 Millionen Mitglieder, wenn man die Doppel- und Mehrfachanmeldungen vieler sportbegeisterter Menschen mitzählt, allein fünf Millionen Mitglieder zählt der Dachverband Deutscher Turner-Bund (DTB). Der Breitensport erlebte nach Corona eine Renaissance. Aber verbindet ihn noch etwas mit dem Leistungssport, nur eine Halle weiter?
Nebenan ist zeitgleich Turn-Europameisterschaft, hier geht es nicht nur um die Leidenschaft für den Sport, sondern vor allem um Leidenschaft für Perfektion. Elisabeth Seitz, 31 Jahre alt, hat sie jahrelang gelebt, ihrem Körper viel abverlangt und ist so zu Medaillen geturnt. Nun nimmt sie Abschied. Ihr Körper lässt das Turnen auf höchstem Niveau jetzt nicht mehr zu, mehr noch: Seitz wird jetzt Mutter. Eine Karriere endet, wo andere vielleicht gerade starten.
Profi-Turnerin Elisabeth Seitz musste mehr entbehren als Freizeit
Wobei, um Karriere geht es den meisten (noch) nicht, die beim Turnfest dabei sind. 50 000 aktive Sportler und Sportlerinnen haben sich in Leipzig versammelt, Vereinsmitglieder unter dem Dachverband des DTB. Schon seit 1860 wird das Deutsche Turnfest ausgetragen, zu Zeiten des Nationalsozialismus diente es als Propagandaveranstaltung, ebenso in der DDR. Alle vier Jahre findet es eigentlich statt, doch wegen Corona ist das letzte nun schon acht Jahre her. In der ganzen Stadt gibt es bis Sonntag noch Wettkämpfe, aber auch Mitmachstationen und Weiterbildungsangebote.
„Heute Morgen haben wir bei einem Überraschungsworkshop mitgemacht“, sagt Luna, 17 Jahre alt, sie will mit ihrer Freundin gleich weiter zur nächsten Schulung: Diesmal geht es darum, wie sie Salti vernünftig hinbekommen. Beide turnen eigentlich in der Nähe von Pfaffenhofen und haben sich in Leipzig vor allem auf den Austausch mit den anderen gefreut. „Es ist ein schönes Gemeinschaftsgefühl“, sagt Luna. Aber klar, in der Turnhalle mit Dutzenden anderen zu übernachten, „das ist schon ein bisschen unruhig“.
In ganz anderen Sphären bewegen sich da die Leistungssportler und -sportlerinnen, die bei der EM zeitgleich um Medaillen kämpfen. Elisabeth Seitz hätte in Leipzig gerne noch dazugehört, musste aber wegen einer Schulterverletzung aufs Turnen verzichten. Und sie spürte, dass für sie nun andere Dinge im Leben größeren Raum einnehmen sollen. Familiengründung statt Schwebebalken. „Es war eine Reise voller Höhen und Tiefen, voller Träume, harter Arbeit, Tränen und unendlicher Leidenschaft“, resümiert Seitz ihre Karriere. Schon mit 15 Jahren hatte sie es zur Turn-WM nach London geschafft. Zu ihren größten Erfolgen gehörten Gold bei der EM 2022 und WM-Bronze 2018, beide Male am Stufenbarren. Insgesamt gewann sie sechs Medaillen bei internationalen Meisterschaften und nahm an drei Olympischen Spielen teil. „Ich bin so wahnsinnig dankbar“, sagt Seitz.
Um all das zu erreichen, musste die Turnerin allerdings auch mehr entbehren als Freizeit, mehr Qualen aushalten, als es manchmal gesund war. Auch wegen der Umstände, die sie in ihrem Sport begleiteten. Am Turnzentrum in Mannheim erlebte Seitz Machtmissbrauch und Demütigungen beim Training, war schließlich die erste aktive Top-Athletin, die eine Aufarbeitung der Missbrauchsvorwürfe in Mannheim und Stuttgart einforderte. Schon Jahre zuvor hatte sie sich dafür eingesetzt, dass die Kleiderordnung in ihrem Sport angepasst wird, sie nicht mehr in knappen Anzügen vor Publikum und Kameras treten müssen. Die Leichtigkeit, die einem im Sport oft so viel Spaß bescheren kann, verwandelt sich im Spitzensport nicht selten in Schwere. Helen Kevric, ihre Kollegin im Nationalteam, verletzte sich am Donnerstag so schwer am Knie, dass die EM für sie gelaufen ist.
Der Reiz des Turnfestes besteht auch darin, Neues zu entdecken
All das ist an anderen Stellen des Turnfestes weit weg, nicht der große Sport ist für die Masse hier die Motivation fürs Bewegen. Wer auf lebenslange Fitness setzt, der macht es wie Jörg Siebenhaar. Der 73-Jährige ist mit dem Fahrrad aus Salzgitter nach Leipzig geradelt, 220 Kilometer, um in drei Disziplinen anzutreten: am Barren, beim Rope Skipping – also schnellem Seilspringen – und auf dem Minitrampolin. Er mag es, „ein bisschen Leistungsdruck“ zu verspüren jenseits seines Alltags, sagt er. Also doch ein Hauch von Spitzensport hier. Früher hat er 20 Stunden pro Woche beim Turnen trainiert, mit einer Karriere klappte es nicht. „Der Beruf stand immer im Weg.“ Nun ist er vor allem wegen der Atmosphäre hier, „für das Gemeinsame“, sagt er. Sein erstes Turnfest hat er 1968 erlebt. Der Spaß daran ist seitdem geblieben. Auch wenn der Rücken zwickt. Doch das hält ihn nicht davon ab, noch aufs Trampolin zu springen.
Jörg Siebenhaar, 73, ist mit dem Fahrrad von Salzgitter nach Leipzig gekommen. (Foto: Saskia Aleythe)
Schon zum 13. Mal findet das Turnfest in Leipzig statt, zuletzt wurde 2002 hier gefeiert. Damals stand die Veranstaltung unter dem Eindruck einer nahenden Olympiabewerbung für die Spiele 2012, man wollte zeigen: Leipzig ist bereit für den ganz großen Aufschlag. Doch Olympia kam nicht. Nun, 23 Jahre später, gibt es wieder diese Parallele mit offenem Ausgang: In der deutschen Bewerbung als Austragungsort für das Jahr 2040 will auch Leipzig eine Rolle spielen. Und so gibt es jetzt auf der Messe auch eine Bühne, auf der für Olympia in Deutschland geworben werden soll. Die engagierte Referentin spricht vor vier Zuhörern und leeren Stuhlreihen, „Fit durch Olympia“ ist das Motto. Doch wer sich hier umsieht, erkennt viele fitte Menschen, denen Olympia nicht fehlt. Hier gilt eher „Fit trotz Olympia“, wo immer es auch Station machen wird.
Und das ist auch das Motto ein paar Kilometer weiter im Süden der Stadt. Vorbeigeschaut auf den Trainingsplätzen von Lok Leipzig, dort wird jetzt Faustball gespielt. Turnen ist schließlich nur eine von vielen Sportarten, die der DTB sonst noch vertritt. Die U12 der SG Bademeusel steht auf dem Platz, die Kinder zelebrieren einen Schlachtruf, dann soll der TuS Frammersbach besiegt werden. „Die Motivation für Sport muss immer von einem selbst kommen“, sagt SG-Trainerin Kathrin Habertag, und der Verein aus der Lausitz hat reichlich motivierte Kinder. „Wir können uns über fehlenden Nachwuchs nicht beklagen“, sagt sie.
Turnfest ist viel mehr als Turnen: zum Beispiel auch Faustball-Spielen. (Foto: Saskia Aleythe)
Hier in Leipzig sind sie auch, um auf Mannschaften zu treffen, mit denen sie sich sonst nicht messen oder um Plätze zu sehen, die ihnen sonst verborgen bleiben. Und dann vereint sie auch die Offenheit und Neugier, Fremdes zu entdecken. Turnfest ist so viel mehr als Turnen.