Die Familie Bellelli ist in ihrer Zeit gefangen. Im bürgerlichen, von Konventionen und steifer Garderobe geprägten 19. Jahrhundert, das wenig Spielraum für individuelle Entfaltung lässt. Schon gar nicht auf einem monumentalen Familienbildnis, wie es der Baron Gennaro de Bellelli 1858 bei Edgar Degas in Auftrag gab.

2023 hing das Gemälde im New Yorker Metropolitan Museum of Art in einem fliederfarbenen Saal. Neun Besucher, Protagonisten der Gegenwart, verteilen sich im Raum – in die Kunst vertieft, selbst Bilder mit dem Smartphone machend, den Blick ins Unbestimmte gerichtet und seltsam isoliert.

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Unwissentlich wiederholen sie, was auch Degas schon subtil festhielt. Er zeigt ein soziales Gefüge der leeren Blicke, Abwesenheiten und fehlenden Blickwechsel. Ein Motiv, perfekt für Thomas Struth. Der Künstler hat dieses Gefüge ebenfalls im Kingsize-Format eingefroren, als bildhafte Analyse temporärer Konstellationen, die zum Kern seiner fotografischen Arbeit gehören.

Jeder fotografiert doch

Das betonte Struth noch einmal, als er während des Berliner Gallery Weekends einen Talk in der Neuen Nationalgalerie bestritt. Dabei sind seine Werke aus den vergangenen vierzig Jahren gar nicht in der Institution zu sehen. Sondern in der Galerie Max Hetzler wenige Meter entfernt. Dass ihm Joachim Jäger als Museumsleiter dennoch sein Haus zur Verfügung stellte, liegt an der enormen Reputation des Künstlers.

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Falls es dafür noch Beweise braucht, zählte Jäger zum Start des Gesprächs schnell noch die Zahl der Besucher bei Hetzler auf: 12.000 waren es allein am Galerien-Wochenende. Andere Ausstellungen haben nach Monaten nicht ähnlich viel Publikum. Doch was macht Struths Werk so anziehend, wo eigentlich alle fotografierend unterwegs sind?

Zur Ausstellung

Die Fotografien von Thomas Struth sind bis zum 21. Juni in der Galerie Max Hetzler, Potsdamer Straße 77-87 (Innenhof) zu sehen. Die Galerie hat dienstags bis samstags von 11 bis 18 Uhr geöffnet.

Da wäre: Struths Meisterschaft. Seine sorgfältig komponierten Aufnahmen von Museen, Urwäldern oder technischen Einrichtungen, wie er sie 2009 an Instituten für Plasmaphysik vorgefunden hat, weisen stets über das konkrete Motiv hinaus. Nicht immer ist dies sofort einsichtig – aber spürbar. Die Bilder sind ästhetisch perfekt und streben dennoch auseinander, als habe jedes Detail darin eine eigene Botschaft.

Kabelsalat der Wissenschaft

Verblüfft steht man vor dem Kabelsalat der „Tokamak Asdex Upgrade Periphery“, den das Max Planck Institut in Garching angerichtet hat. Ein Ort, an dem Strom auf höchstem Niveau experimentell umgeleitet wird und der dennoch wirkt wie ein chaotischer Hobbykeller. In Cape Canaveral erkundet Struth einen Teil des Kennedy Space Centers, an der Küste Südkoreas lichtete er 2007 eine mächtige Bohrplattform ab, die sich geradezu theatralisch über das Wasser erhebt.

Es sind technoide Orte ohne ästhetische Strukturen. Dennoch gelingt es dem Künstler, sie visuell zu ordnen und Interesse zu wecken. Denn auch diese Orte, die sonst nicht öffentlich zugänglich sind, erzählen viel Widersprüchliches über eine hoch industrialisierte Gesellschaft.

Thomas Struth: „Stellarator Wendelstein 7-X Detail, Max Planck IPP, Greifswald 2009“.

© © VG Bild-Kunst, 2025/Thomas Struth, courtesy the artist and Galerie Max Hetzler

Im Kontrast stehen die Paradiesbilder aus den frühen 2000er Jahren, einladend und abweisend zugleich. Struth, Jahrgang 1954 und wie Thomas Ruff oder Candida Höfer Absolvent der Düsseldorfer Kunstakademie bei den Foto-Pionieren Bernd und Hilla Becher, nimmt das Thema in seiner jüngsten, ausgestellten Arbeit wieder auf. „Hinakapo ‘ula, Hawai’i“ zeigt ebenfalls dichtes Grün, das dank der romantischen Sozialisation zum Sehnsuchtsort geworden ist. Gleichzeitig türmt sich die Vegetation vor ihren Betrachtern auf und verweigert jede Sicht in den Wald.

Bilder aus den Anfängen

Ein Stück Unergründlichkeit bleibt, und auch dies ist eine Stärke Struths, der seit 1986 mit der Galerie zusammenarbeitet und aktuell seine 17. Ausstellung bei Hetzler hat. Diesmal fast museal: Im oberen Stockwerk der Räume präsentiert der Künstler frühe Porträts im kleinen Format, die den Beginn seiner Arbeit mit der Kamera markieren und ebenfalls aus den achtziger Jahren stammen.

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Zu sehen ist „Bettina Nabbefeld, Düsseldorf 1984“ als aufwändiges Silbergelatine-Print oder „Janice Guy, Neapel 1988“, die nähend auf einem alten Thonet-Stuhl sitzt. Keine prominenten Frauen, sondern schwarz-weiße Abbilder aus dem persönlichen Umfeld von Struth. Schon damals, „vor der eigenen Haustür“, sagt er, habe ihn das „Flüssige der menschlichen Psyche“ interessiert, die ständig gedanklich unterwegs bis abwesend sei – auch wenn der Mensch direkt vor einem sitzt. „Das schwankt ja die ganze Zeit.“ Ihn habe der Moment interessiert, in dem die Person wirklich da ist. Ein Konzept, das zum künstlerischen Inhalt geworden ist.