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Die neue schwarz-rote Koalition will ein Primärarztsystem einführen. Während Hausärzte die Initiative begrüßen, äußern Fachärzte massive Bedenken.
Kassel – Die Deutschen zählen weltweit zu den Spitzenreitern bei Arztbesuchen: Im Schnitt sucht jeder rund zehnmal im Jahr eine Praxis auf – deutlich häufiger als Menschen in anderen Ländern, berichtet das ZDF-Morgenmagazin (MOMA). In bestimmten Regionen habe jeder Zweite sogar zwei Hausärzte. Doch sind die Deutschen tatsächlich so viel kränker? „Nein, das glaube ich nicht“, so Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, im Gespräch mit dem ZDF-Morgenmagazin.
Stattdessen macht Reinhardt strukturelle Gründe verantwortlich: „Das liegt im Wesentlichen daran, dass wir in Deutschland überhaupt keine Koordinierungselemente haben, wann, wie, wo, wer, weshalb zum Arzt geht. Wir sind das einzige Land der Erde, was es dem Patienten alleine überlässt zu entscheiden, wohin er sich mit seinen Beschwerden wendet.“ Abhilfe schaffen soll nun das sogenannte Primärarztsystem, auf das sich Union und SPD im Koalitionsvertrag geeinigt haben.
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Fotostrecke ansehenPrimärarztsystem soll kommen – Das sehen die Pläne der Merz-Regierung vor
„Die ambulante Versorgung verbessern wir gezielt, indem wir Wartezeiten verringern, das Personal in ärztlichen Praxen entlasten und den Zugang zu Fachärztinnen und Fachärzten bedarfsgerecht und strukturierter gestalten“, steht im Koalitionsvertrag. Dabei werde auf das Primärarztsystem gesetzt. Dieses sieht vor, dass Patienten immer zuerst zum Hausarzt gehen – und nicht direkt zum Facharzt. Der Allgemeinmediziner entscheidet dann, ob eine Überweisung zum Spezialisten nötig ist.
Wenn eine fachärztliche Behandlung nötig ist, kann der Hausarzt Termine innerhalb eines bestimmten Zeitfensters vergeben, die dann von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) vermittelt werden. Sollte das nicht gelingen, können Patienten ambulant im Krankenhaus von einem Facharzt behandelt werden. Ausnahmen im Primärarztsystem sollen nach den Plänen von Union und SPD für die Augenheilkunde und Gynäkologie gelten. Von Zahlheilkunde ist im Koalitionsvertrag nicht die Rede.
Für chronisch kranke Menschen will die Koalition zudem individuelle Lösungen schaffen – etwa durch Jahresüberweisungen oder einen Fachinternisten als steuernder Primärarzt. Bis 2028 sollen so bis zu zwei Milliarden Euro eingespart werden. Auch Hausarzt Thomas Jantsch denkt, dass das Primärarztsystem Kosten senken könne. „Die Leute landen dadurch, dass sie bei uns sind, auch in der Regel gleich beim richtigen Facharzt, wenn man denn einen bräuchte“, erklärt er im Gespräch mit BR.
Die neue Merz-Regierung will, dass Patienten immer erst zum Hausarzt müssen, bevor sie an einen Facharzt überwiesen werden. (Symbolbild) © Sina Schuldt/dpa
Auch auf Supermarkt-Kunden kommt mit der neuen Merz-Regierung eine Änderung zu. Händler jubeln, doch Steuerbeamte warnen vor den Plänen von CDU/CSU und SPD.
Expertin bezeichnet Primärarztsystem als „einzig vernünftigen Weg“
Der Hausärzteverband begrüßt das Vorhaben der neuen Regierung ebenfalls. Angesichts der Herausforderung, zukünftig immer mehr und ältere Patienten mit immer weniger Ressourcen zu versorgen, sei mehr Struktur im Gesundheitssystem wünschenswert. „Ein Primärarztsystem, wie es in vielen europäischen Ländern längst der Standard ist, ist der einzig vernünftige Weg“, sagt Nicola Buhlinger-Göpfarth, Bundesvorsitzende des Hausärzteverbandes, gegenüber Focus online.
Reinhardt führt im Gespräch mit dem ZDF-Morgenmagazin aus, dass Patienten aufgrund der komplexen und arbeitsteiligen Medizin jedoch oft gar nicht wüssten, bei welchem Arzt sie am besten aufgehoben sind – und deswegen durch die medizinischen Fachbereiche irren wie durch ein Labyrinth. „Diese Arzt-Patienten-Kontakte müssen wir im Wesentlichen abbauen, damit wir Zeit und Raum und Luft gewinnen für die, die aktuell leider lange warten müssen“, so sein Fazit.
Fachärzte-Verband kritisiert Pläne von Merz-Regierung – und hat anderen Vorschlag
Kritik kam dagegen vom Spitzenverband Fachärztinnen und Fachärzte Deutschlands – also genau jene Berufsgruppe, die entlastet werden soll. „Es ist vielmehr angesichts der enormen Zahl der heute ohne ärztliche Überweisung in die Facharztpraxen strömenden Patientinnen und Patienten schlichtweg unmöglich, dass diese ausschließlich über Hausärztinnen und Hausärzte ihren Zugang zur ärztlichen Versorgung erlangen und gesteuert werden sollen“, heißt es in der Mitteilung des Verbandes.
Die 55.000 Hausärzte, die es in Deutschland gibt, wären mit den schätzungsweise 112 Millionen zusätzlichen Arztfällen allein aus Kapazitätsgründen überfordert. „Ein solcher hausärztlicher Flaschenhals wäre ein versorgungspolitischer Super-GAU.“ Stattdessen fordert der Spitzenverband, den Patienten in bestimmten Situationen einen direkten Zugang zum Facharzt zu ermöglichen. Dabei geht es ihnen in erster Linie um Menschen mit einer chronischen oder episodenhaften Erkrankung. (cln)