Kai Meyer ist der wohl produktivste Autor, der derzeit in Leipzig lebt und arbeitet. Über 70 Romane hat er schon veröffentlicht. Und seit drei Jahren hat er auch ein Herzstück seiner Heimatstadt zum Thema einer Romanreihe gemacht: das Grafische Viertel. Und zwar das alte, so wie es bis zu den Bombenzerstörungen im Weltkrieg aussah. Ein ganzes Viertel voller rumpelnder, rauchender und eindrucksvoller „Bücherfabriken”, die sich östlich des Stadtzentrums aneinander reihten. Neblig und unheimlich sah es da wohl auch aus.
Was weniger an der dort verlegten und gedruckten Literatur lag, als an der Tatsache, dass die Maschinen mit Dampf betrieben wurden und dafür die Essen qualmten. Anders als heute war es kein ruhiges und idyllisches Quartier, sondern das lärmende Herz der deutschen Buchproduktion. In „Die Bibliothek im Nebel“ und „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ hat Kai Meyer das Viertel schon zur Kulisse dramatischer Handlungen gemacht. Ganz bewusst – auch als Einladung an Leserinnen und Leser, für die sich die größten Abenteuer der Welt natürlich in Büchern abspielen.
Wenn dann auch gleich noch Verleger, Buchhändler und Autoren selbst Teil einer aufregenden Handlung werden, in der Meyer auch gleich noch die politischen Gewitter der Zeit beleuchtet, dann ist im Grunde genau der Stoff beisammen, bei dem Leser und Leserinnen schon deshalb mitfiebern, weil es um ihr ureigenstes Lebenselixier geht.
In finsteren Zeiten
Und so geht das auch in „Das Haus der Bücher und Schatten“ weiter, mit einem jüngst erst aus dem Polizeidienst entlassenen Kriminalkommissar Cornelius Frey. Es ist das Jahr 1933 und die an die Macht gekommenen Nationalsozialisten räumen auf, schmeißen alle Leute aus dem Dienst, die ihre Weltanschauung nicht teilen, gar Kommunisten oder Juden sind. Oder wie dieser Frey einfach nicht begreifen wollen, dass an Mord und Totschlag nur die Kommunisten schuld sein können. U
nd dass er dann auch ein paar Kommunisten zu präsentieren habe, wenn ein Haufen randalierender SA-Leute getötet wurde. Aber diese Wunschtäter zu finden, war nicht so Freys Ding. Und seit die Nazis auch die Polizei beherrschen, hat er dort auch noch einen besonders verbissenen Widersacher, der alles tut, ihn zu demütigen oder am Ende gar töten zu lassen.
Denn das macht ja ganz offensichtlich in einem Land, in dem die Willkür die Macht übernommen hat, keinen Unterschied mehr. Außer für Frey, der aus seiner Haut als unparteiischer Polizist nicht heraus kann und lieber Nachtwächter in der Deutschen Bücherei wird. Bis zu dem Tag, an dem just vor der Bücherei eine junge Frau ermordet wird, deren Leben er am Tag zuvor gerade gerettet hat. Und dazu auch noch einer seine ehemaligen Polizistenkollegen. Weil das nun einmal ein Polizistenmord war, darf er wieder ermitteln. Mit sehr unkonventionellen Methoden. Auch weil er keinem seiner Kollegen im Polizeipräsidium mehr traut.
Schon das ist Nervenkitzel genug: Wie bleibt man ein anständiger Polizist, wenn die Führung korrupt ist und Kriminelle ganz offiziell in Uniform auf der Straße ihr Unwesen treiben? Es geht bei Meyer ganz unübersehbar auch immer um die Frage des menschlichen Anstands in finsteren Zeiten, der Bereitschaft, menschlich zu bleiben, wenn alle mit den Wölfen heulen. Und dazu kommt in dieser Geschichte: Die Leute, die er verdächtigt, an dem Doppelmord tatsächlich schuld zu sein, sind mächtig, gehören zur Unterwelt in der Stadt und sind selbst wieder mit den Mächtigen und Reichen in der Stadt verbandelt. Und: Sie verfolgen jeden seiner Schritte.
Wenn man niemandem mehr trauen kann
Was eben auch bedeutet: Mit allem, was er ermittelt, bringt er nicht nur sich selbst in Gefahr, sondern auch die Menschen, die er als Zeugen befragt oder gar – wie das Mädchen Leontine – versucht zu beschützen. Denn auch sie weiß zu viel über die feine, heimliche Welt der Mächtigen, die sich in esoterischen Zirkeln und Freimaurerlogen treffen, etliche davon längst Teil des neuen Regimes. Gleich mehrfach gerät Frey mit ihren kraftstrotzenden Türstehern aneinander, ist eigentlich schon zur Hälfte des Romans gründlich lädiert und zerprügelt. Aber er lässt nicht locker. Auch nicht, als er in einen Hinterhalt gerät und beinah selbst getötet wird.
Dabei ahnt er schon, dass die Spur zum Doppelmörder in eine ganz andere Richtung führt. Dass vielleicht auch die Ermittlungen seines ermordeten Kollegen Joseph Zirner selbst der Grund dafür war. Ermittlungen, die – wie kann es bei Kai Meyer anders sein – tief in die Welt der Bücher führt. In diesem Fall in die Welt eines Autors namens Aschenbrand, der in einem Gutshaus im fernen Livland lebt und in einem Leipziger Verlag seine ersten beiden Bücher mit Erfolg veröffentlichte. Nur beim dritten Buch klemmt es.
Er wird einfach nicht fertig. Und so reist seine Lektorin Paula Engel mit ihrem Lektorenkollegen Jonathan Zirner zusammen bei Schnee und Eis ins ferne Livland, in die abgelegenen Wälder, wo das Gutshaus liegt. Und Kai Meyer braucht gar nicht lange, um genau die beklemmende, eisige und einsame Atmosphäre zu schaffen, in der die Leser auf Schritt und Tritt mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Erst recht, als sie im Hauptstrang des Romans längst erfahren haben, dass das Gutshaus abgebrannt ist und Paula und Jonathan nicht nach Leipzig zurückgekehrt sind.
Und da sich die Entwicklung in der Haupterzählung um Cornelius Frey und in der Erzählung um die Ereignisse im eisigen Livland ineinander verschränken, dürfte so mancher Leser um seinen Schlaf gebracht sein, wenn er so wagemutig war, vorm Schlafengehen in diesen Roman zu schauen.
Denn auf beiden Erzählebenen geht es ganz und gar nicht friedlich zu. In der Einsamkeit des Gutshauses in Livland, dessen Gänge mit Bücherregalen vollgestellt sind, was dann auch den Titel für den Roman hergab, merkt Paula sehr schnell, dass einiges von dem, was Aschenbrand erzählt hat, nicht stimmen kann. Außerdem scheint es in dem alten Kasten zu spuken, scheinen die Geister zweier toter Mädchen durch die Gänge zu streichen.
Wenn ein Leben nicht mehr zählt
Und von einem nüchternen Ermitteln kann auch Cornelius Frey nicht reden. Im Gegenteil: Immer neue Todesfälle pflastern den Weg der Ermittlungen. Ein Leben scheint im neuen Reich der Nazis keinen Pfifferling mehr wert. Die Brutalität greift um sich. Und auch die Figuren in den esoterischen Kreisen, in die Frey gerät, sind skrupellos. Und wenn sie selbst nicht tätig werden, kaufen sie sich die Handlanger auf dem freien Markt, die für sie Mord und Totschlag begehen. Gleichzeitig ist dieser Teil der Geschichte auch ein Ausflug in die Welt der Esoterik mit ihren Logen und Verlagen, die es vor 1933 in Leipzig tatsächlich gab. Die Buchstadt war ein Dorado für praktisch jede Art von Literatur. Auch esoterische, völkische und – auch das wird thematisiert – antisemitische.
Eine kleine Erinnerung daran, wie leicht manipulierbar die Menschen sind und wie sehr die in riesigen Stückzahlen produzierte antisemitische Literatur mit dazu beitrug, die Tötungsmaschine der Nazis vorzubereiten.
Und auch wenn Frey sich von Anfang an ziemlich sicher ist, dass es die Wunschtäter seiner Vorgesetzten nicht waren, die seinen Kollegen und das Mädchen Emelie umgebracht haben, ist er öfters nahe daran, wieder von den Ermittlungen abgezogen zu werden. Doch wo andere schon schlotternd in den Seilen hängen würden, rafft er sich wieder auf und macht weiter, folgt der nächsten Spur, dem nächsten Indiz und klärt am Ende tatsächlich einen höchst literarischen Fall. Und der Leser erfährt, warum Paulas Geschichte von der Reise nach Livland als Ich-Erzählung eingebettet ist in den Roman.
Am Ende brennen Bücher. Cornelius Frey hat den Fall gelöst. Aber es ist absehbar, dass sein weiteres Leben als Polizist kein Zuckerschlecken werden kann in einem Regime, wo die Mächtigen willkürlich bestimmen, wer Feind und Opfer sein soll. Für Lesebegeisterte freilich ist es ein weiterer, mit starken, düsteren Farben gemalter Roman, der in jene neblige, düstere Buchstadt entführt, die Leipzig damals noch war. U
Und in eine Welt, in der seltsame Verlage samt ihren Verlegern und Autoren existierten, die mit obskurer Literatur Geschäfte machten. Aber auch Autoren wie dieser Aschenbrand existierten, die mit düsteren, dicken Romanen den Nerv des Publikums trafen. Romanen, die die Schrecken der Zeit literarisierten, perfekt lektoriert von Menschen wie Paula Engel. Für ein Publikum, das geradezu hungert auf dramatische und auch düstere Geschichten. Sehr wohl wissend, dass sich die Wirklichkeit davon nicht wirklich unterscheidet, wenn finstere Sekten wieder zur Macht greifen und Schauer und Schrecken in der Gesellschaft verbreiten.
Kai Meyer „Das Haus der Bücher und Schatten“ Knaur Verlag, München 2024, 24 Euro.