Es heißt, jeder Ukrainer sei mittlerweile direkt oder indirekt vom Krieg und seinen traumatischen Folgen betroffen: Kinder und Eltern werden zu Waisen, Soldaten und Soldatinnen verlieren Kameraden oder Gliedmaßen. Familien leben seit Jahren voneinander getrennte Leben, im Exil, zuhause, an der Front und in Kriegsgefangenschaft. Was macht das mit den Menschen, und welche Rolle spielen Bücher im vierten Kriegsjahr?
Das fragten sich auch zwei der Kuratorinnen des 13. Kyjiwer Bucharsenal-Festivals, die amerikanische Historikerin Marci Shore von der Yale University und die ukrainische Übersetzerin und Autorin Oksana Forostyna. Sie sind sich sicher: Alles bleibt Übersetzung, so das Leitmotiv des von ihnen geplanten Festivals.
Können Grenzerfahrungen sprachlich ausgedrückt werden?
„Die grundlegendste Frage ist doch: Können diese Grenzerfahrungen überhaupt sprachlich ausgedrückt werden? Kann man seine eigenen traumatischen Erfahrungen in Worte fassen? Und kann man sie dann überhaupt in einer anderen Sprache einem anderen Menschen vermitteln? Diese Frage scheint gerade jetzt sehr, sehr wichtig zu sein“, erklärt Shore. Gerade jetzt hänge viel davon ab, ob die Ukrainer der Welt erklären können, was sie erleben. Extreme Umstände lassen sich aber nie komplett übermitteln. Man müsse es aber versuchen, so Forostyna.
Einen Ort für diesen Dialog will das Festival schaffen. Genau deshalb sei Veteranen-Literatur schon seit 2017 ein fester Programmpunkt, sagt Katryna Slavinska, verantwortlich für das diesjährige Verlagsprogramm des Buchfestivals. So ist auch der Pionier im Bereich Veteranenliteratur, Markobooks, wieder vor Ort. Doch mittlerweile sind die Romane, Sachbücher und Gedichtbände von Soldaten und Veteranen im ukrainischen Mainstream angekommen.
Starautor Artem Chekh
Große Verlage führen namhafte kämpfende Starautoren wie Artem Chekh. Eine zentrale Ausstellung widmet sich dem stetig wachsenden Genre der Kriegs- und Veteranenliteratur. Gelesen würden sie von Soldaten, jungen Leuten, aber auch Ehepartnern und Müttern der Streitkräfte und interessierten Zivilisten, die verstehen wollen, was genau die Soldaten erleben, so Kyrylo Dorolenko vom Ministerium für Veteranen, das die Ausstellung organisiert hat.
Neuer Gedichtband des Ukrainers Serhij Zhadan Die Sprache ist stärker als der Krieg
Aber auch im Exil operierende Verlage, Werke ehemaliger Kriegsgefangener und von Russland verschleppter Zivilisten, wie Maksym Butkevych, Stanislav Aseev und der jungen Krimtartarin Leniie Umerova, die nach zwei Jahren russischer Gefangenschaft freikam, finden auf dem Festival Beachtung.
Die diesjährige Ausgabe sollte das Lesen als Akt der Freiheit beleuchten. Butkevych, der mehr als zwei Jahre in russischer Gefangenschaft verbrachte, erzählte im Gespräch mit Slavinska, wie das Lesen in Gefangenschaft half, Autonomie über die eigenen Gedanken zu bewahren. Insbesondere ein Buch von Viktor Frankl, aber auch George Orwells „1984“ hätten ihm geholfen, die Zeit zu überstehen. Doch Lesen helfe ebenso, den Kriegsalltag mental zu überstehen.
Bücher einer verlorenen Kindheit
In einer weiteren Ausstellung ging es darum, Erlebnisse aus den Kriegsjahren zu reflektieren und zu verarbeiten. Gezeigt wurden Bücher einer verlorenen Kindheit aus der wachsenden Sammlung des „Museums der Kriegskindheit”. „Es sind Bücher, die Kinder am Tag der Evakuierung mitnahmen, Schulbücher, die im Luftschutzkeller für etwas Normalität sorgten, aber auch ein Buch aus einer deutschen Flüchtlingsunterkunft”, erklärt Museumsmanagerin Oksana Karpiuk. Sie ist überzeugt, dass Ausstellungen wie diese den Ukrainern helfen, ihre Erfahrungen zu verarbeiten: „Diese Kriegserfahrung ist heute Teil unseres Alltags und um zu funktionieren, normalisieren wir vieles, was wir erleben, obwohl es abnormal ist.”
Büchertisch auf der Buchmesse in Kiew
© Kristina Thomas
Was man in der Ukraine niemandem erklären muss: Warum mehrere Brigaden auf einem Buchfestival Spenden für ihre Ausstattung sammeln. „Natürlich bleiben sie thematisch beim Buch”, so Festival-Leiterin Yuliia Kozlovets. Die Asow-Brigade hat Fotobücher dabei, etwa von legendären Kämpfern, die 2022 die Stadt Mariupol verteidigten und so den Sturm auf Kyjiw verhinderten. Wie auch auf den Musikfestivals und Konzerten in Kyjiw spenden Besucher nebenbei Geld für die Verteidigung. Dass dieser Moment in Freiheit vom Halten der Frontlinie abhängt, ist den meisten Menschen bewusst.
Schutz bietet das Kellergewölbe des alten Waffenarsenals
Hinzu kommt die tägliche Bedrohung. Denn Russland attackiert die ukrainischen Städte nahezu täglich mit Raketen, Drohnen und Marschflugkörpern. Für zehntausende Besucher mussten ausreichend Luftschutzbunker und Fluchtwege organisiert werden. Unter anderem im imposanten Kellergewölbe des alten Waffenarsenals fanden die Gäste Schutz. Dieses Jahr wurde gleich drei Mal das Programm unterbrochen.
Obwohl man vorbereitet war, schwankt Festivalleiterin Kozlovets zwischen Enttäuschung und Wut. Im Gewölbe tröstet man sich unter Kollegen: „Man plant alles akribisch bei vollem Bewusstsein, dass es von einer Sekunde auf die andere einfach abgesagt werden muss“, sagt Kozlovets. „Gäste reisen von weit her an – Frankreich, den USA, oder Kanada – bereiten sich monatelang vor. Man kümmert sich um eine Unterkunft, doch dann ertönt der Luftalarm und alles war umsonst.” Das sei bitter.
Dennoch hat sich der Aufwand gelohnt. 30.000 Besucher schlenderten auch in diesem Jahr durch die imposanten Hallen des alten Waffenarsenals. Mehr als einhundert Verlage und sechs Buchhandlungen präsentierten sich, hinzu kamen mehr als 200 Veranstaltungen. Am Wochenende bildeten sich lange Schlangen an Eingang, Ständen und Signiertischen, etwa für das neue Buch der Starautorin Kateryna. Mit dabei war auch das Übersetzungsfestival „Translatorium” mit einem eigenen Programm. Der Ukraine fehlen Übersetzer:innen, und im Ausland fehlen Übersetzer fürs Ukrainische. Das wollen die Initiatoren ändern.
Liebesromane, Krimis und Fantasy liegen im Trend, befeuert von Tiktokern und Social Media. Es geht den Menschen um Realitätsflucht, um dem rauen Kriegsalltag mental zu entfliehen, aber auch darum, neue Kraft zu schöpfen.
Kateryna Illchuk vom Charkiwer Verlag Vivat
Der Designer Anton Homeniuk ist mit seiner Freundin hier, um die Atmosphäre zu genießen und unter kreativen Gleichgesinnten zu sein. „Ich selbst lese gar nicht so viel, aber ich bin hier, weil es das einzige Festival seiner Art ist in Kyjiw, mit dieser Art von Besuchern. Es geht neben Büchern um Design und Kunst. Deshalb komme ich her.”
Vor dem Krieg fliehen – wenn auch nur mental
Laut Kateryna Illchuk vom Charkiwer Verlag Vivat ähneln die Lesetrends in der Ukraine denen in anderen Ländern: „Liebesromane, Krimis und Fantasy, befeuert von Tiktokern und Social Media. Es geht den Menschen um Realitätsflucht, um dem rauen Kriegsalltag mental zu entfliehen, aber auch darum, neue Kraft zu schöpfen.“ Zahlen von Verlagshäusern wie dem 2020 gegründeten Wykhola Verlag, die sich auf ukrainische Autoren spezialisieren, zeigen, dass die heimischen Stimmen immer beliebter werden.
„Bücher an die Front“: Der Verleger Andrii Ovarchuk an seinem Stand
© Kristina Thomas
Vivat und Vykhola betreiben auch Buchclubs – ein weiterer Trend in der Ukraine. Viele Verlage und Buchhandlungen laden dazu ein, sich den Clubs anzuschließen. Aber diese Buchclubs entstehen genauso unter Freunden, in großen Konzernen – oder bei den Streitkräften. Die Soldatin Nataliia Sad moderiert einen Buchclub für Frauen, die ihre Ehemänner und nahe Angehörige verloren haben. „Es geht darum, durch all die Herausforderungen und die traurigen Geschichten in ihrem Leben stärker zu werden. Deshalb versuche ich, Bücher zu finden, die sie nicht noch mehr verletzen, damit wir uns entspannen können.”
Bücher sind wichtig für die Soldaten an der Front
Zwölf Bücher hat sie eingekauft, darunter eins von John Irving, und über Madame Tussaud, aber auch Sachbücher über US-Politik, Psychologie und Gesundheit: „Ich will fit bleiben, denn es ist ziemlich schwierig, dauerhaft den Helm und die schusssichere Weste zu tragen. Also will ich lernen, wie ich meinen Körper effizienter bewege. Das Buch ist daher sehr beliebt bei Soldaten.”
Ich versuche Bücher zu finden, die nicht noch mehr verletzen.
Nataliia Sad, Buchclubmoderatorin und Soldatin
Wie wichtig Bücher für Soldaten an der Front sind, weiß Andrii Ovarchuk. Für sein Projekt „Bücher an die Front” sammelt er Bücherspenden. Mehr als eintausend Bücher wurden auf dem Festival gespendet. Andrii ist zufrieden. Besonders freut ihn, dass es viele Neuerscheinungen sind, die die Soldaten im Osten des Landes nicht ohne Weiteres kaufen können. Eines davon überreichte ihm Präsidentengattin Olena Zelenska, die mit dem Präsidenten am zweiten Tag zu Besuch war. Es ist die Neuauflage des Klassikers „Meister des Schiffs“ von Yuryj Yanovsky, einem Kriegskorrepondenten des Zweiten Weltkriegs.
Mehr zur ukrainischen Kulturszene auf Tagesspiegel Plus Kunsttherapie in der Ukraine Kindern eine Auszeit vom Krieg geben Als queerer Soldat für die Ukraine im Krieg „Ich kenne viele Schwule in der Armee, die ihre Identität verbergen“ Sergej Gerassimows Buch „Feuerpanorama“ Das Grauen von Charkiw
Das Festival klang mit einem Konzert des DakhTrio aus, einem musikalischen Projekt des Kyjiwer „Dakh”-Theaters. Sofiia Baskakova, Ihor Dymov und Volodymyr Rudenko holen mit ihren theatralisch-musikalischen Interpretationen die klassische ukrainische Poesie in die Gegenwart, darunter Werke legendärer Dichter wie Taras Shevchenko und Vasyl Stus.
Die Performance endete mit den Worten „Ich bin, und ich bin das Volk” aus einem Gedicht von Pavlo Tychyna. Doch der allerletzte Applaus galt den Sirenen. Kurz nach 21 Uhr, als der tosende Applaus gerade verstummt war, ging der Luftalarm wieder los. Doch die russischen Raketenbomber und Drohnen können die ukrainische Kultur nicht zum Schweigen bringen. Jeder Sieg wird gefeiert, wenn es auch ein symbolischer ist.