Collage für LTO-Kommentar: Bundesinnenminister Alexander Dobrindt im Gespräch mit Bundeskanzler Friedrich Merz; es kommentiert LTO-Chefredakteur Felix Zimmermann

Innenminister Dobrindt und Kanzler Merz wollen mit den Zurückweisungen trotz der Beschlüsse des VG Berlin weitermachen. Foto: picture alliance/dpa | Kay Nietfeld / Collage LTO

Trotz der Entscheidungen des VG Berlin will die Bundesregierung mit Zurückweisungen an der Grenze weitermachen. Die Begründung von Innenminister Dobrindt: Das Gericht habe ja nur Einzelfälle entschieden. Damit liegt er daneben.

Nur eine „Einzelfallentscheidung“. Wir machen weiter mit den Zurückweisungen, lautet das Credo von Bundesinnenminister Alexander Dobrindt, nachdem gestern das Verwaltungsgericht (VG) Berlin Zurückweisungen von Asylsuchenden an der Grenze als unionsrechtswidrig einstufte. Auch Bundeskanzler Friedrich Merz sieht nach der Entscheidung des VG weiterhin Handlungsspielräume. „Wir wissen, dass wir nach wie vor Zurückweisungen vornehmen können“, so Merz am Dienstag in Berlin. Andere Politiker aus den Reihen von Union und SPD, darunter Hessens CDU-Innenminister Roman Poseck, stimmten in Dobrindts Einzelfall-Gerede mit ein.

Dabei ist der Einzelfall-Einwand nichtssagend. Egal, ob es um Geld, Waren oder eben um einen Anspruch auf Grenzübertritt geht. Wenn ein Gericht entscheidet, ob einem Kläger ein Anspruch zusteht, geht es immer um Einzelfälle. Die Bindungswirkung eines Urteils betrifft stets nur die beteiligten Parteien. Auch eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs mit amtlichen Leitsätzen ist eine Einzelfallentscheidung.

Das Einzelfall-Framing soll die Bedeutung der Entscheidungen des VG Berlin herunterspielen. Doch in Wahrheit verhüllt es, dass das Gericht in der Begründung gerade nicht auf Einzelfälle abgestellt, sondern allgemeine Maßstäbe gesetzt hat. Das Gericht hat den antragstellenden Somaliern nicht aufgrund individueller Fluchtschicksale Recht gegeben, sondern ganz allgemein die Frage beantwortet, ob Deutschland Menschen an einer Binnengrenze ohne Dublin-Prüfung zurückschieben darf. Und es hat dies deshalb verneint, weil EU-Recht dem entgegensteht und die Ausnahme eines „Notstands“ bzw. einer „Notlage“ nach Art. 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU nicht greift. Damit weist die Entscheidung gerade über die entschiedenen Einzelfälle hinaus, auch wenn eine formelle Bindungswirkung fehlt. 

Missachtung von Gerichtsbeschlüssen?

Das Einzelfall-Gerede ist daher insofern eine bloße Nebelkerze: Es impliziert, dass sich das Berliner VG nicht zur allgemeinen Frage der Zurückweisungen festgelegt hätte. Hierfür spricht nichts. Im Gegenteil: Das Gericht hat sich mit den von der Bundesregierung vorgebrachten Argumenten auf 28 Seiten ausführlich auseinandergesetzt.

Agieren Kanzler und Innenminister nun rechtsstaatswidrig, indem sie die Berliner Beschlüsse ignorieren? 

Die Frage ist nicht so leicht zu beantworten wie der Fall des bayerischen Ministerpräsidenten Söder. Der ignorierte mehrere rechtskräftige verwaltungsgerichtliche Urteile zu Diesel-Fahrverboten. 2019 musste sogar der Europäische Gerichtshof darüber entscheiden, ob Politiker wegen Missachtung von Gerichtsurteilen in Beugehaft genommen werden können. Eine klare Missachtung der Justiz, die bei vielen das ungute Gefühl zurückgelassen hat, dass die bayerische CSU sich nur dann als Rechtsstaatspartei sieht, wenn die Urteile ihr in dem Kram passen. 

Die Lage hier ist eine andere: Die konkreten Beschlüsse des VG Berlin werden umgesetzt. Die Somalier werden nun die Grenze übertreten dürfen, das Prüfverfahren beginnt dann. Formell liegt darin also keine Missachtung der Gerichtsbeschlüsse. Doch wer sich dem Rechtsstaat verpflichtet fühlt, nimmt gerichtliche Entscheidungen auch dann ernst, wenn sie über einen konkreten Fall hinausweisen, ohne Bindungswirkung zu entfalten. 

Strafrechtliche Konsequenzen denkbar

Weitere Gerichtsverfahren sind absehbar. Betroffene werden die Möglichkeit nutzen, sich juristisch zu wehren, und die Gerichte werden erneut prüfen. Für Parteien, die sich dem Rechtsstaat verpflichtet fühlen, ist eine Politik, die sehenden Auges weitere juristische Niederlagen riskiert, jedoch ein problematisches Signal. 

Spätestens wenn Dobrindt die zweite oder dritte Niederlage vor einem deutschen VG kassiert, könnte es dann für ihn und auch für Polizeibeamte heikel werden. Denn eine rechtswidrige Zurückweisung kann strafrechtlich relevant sein, etwa den Tatbestand der Nötigung erfüllen. Wenn mehrere Gerichte die Zurückweisung als rechtswidrig beurteilen, bleibt für einen Verbotsirrtum ein Verharren auf der Minderheitenpositionen womöglich nur noch wenig Raum. 

Die Motivation für das Vorgehen von Dobrindt und Merz dürfte primär parteipolitischer Natur sein. Viele Zurückweisungen gab es ohnehin nicht. Man scheut den Eindruck, gegenüber der AfD oder in der Migrationsdebatte als zu nachgiebig wahrgenommen zu werden. Eine verantwortungsvolle Politik muss sich an Recht und Gesetz orientieren und neue Lösungen mit den europäischen Partnern finden.

Zitiervorschlag

Nach VG-Beschluss zu Zurückweisungen:

. In: Legal Tribune Online,
03.06.2025
, https://www.lto.de/persistent/a_id/57339 (abgerufen am:
03.06.2025
)

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