Am Montagabend gibt sich Alexander Dobrindt (CSU) alle Mühe, möglichst schnell das Memo zu hinterlegen, dass eigentlich gar nichts passiert sei. Für 19 Uhr hatte der Bundesinnenminister die Hauptstadtpresse in sein Ministerium geladen, um seine Sicht der Dinge zu klären. Das tut er letztlich vor allem mit einem Satz: Die Bundesregierung halte „im Übrigen an den Zurückweisungen fest“.

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Zu diesem Zeitpunkt sind nur wenige Stunden vergangen, seit die sechste Kammer des Berliner Verwaltungsgerichts zu einer Entscheidung gekommen war. Die sich zumindest auf den ersten Blick wie ein Schlag gegen Dobrindts Migrationspolitik liest.

Per Eilbeschluss gaben die Richter dem Antrag von drei Asylsuchenden gegen ihre Zurückweisung statt. Und warfen damit einen Stock in die Speichen der Bundesregierung. Schließlich sind jene Zurückweisungen an den deutschen Außengrenzen eines der zentralen Wahlversprechen von Kanzler Friedrich Merz (CDU). Eines, das Dobrindt am ersten Tag seiner Amtszeit umsetzen ließ. Für beide geht es also um viel.

Entsprechend kämpferisch zeigte sich Dobrindt bei seinem Auftritt am Montagabend. Er gehe weiterhin davon aus, so der Minister, „dass die Rechtsgrundlage gegeben“ sei. Man werde deswegen „weiter so verfahren“, ganz „unabhängig von dieser Einzelfallentscheidung“. Die Bundesregierung, so Dobrindt weiter, wolle eine Klärung im Hauptsacheverfahren herbeiführen.

Dobrindt unter Zugzwang

Tatsächlich ist mit der gestrigen Entscheidung noch nichts abschließend geklärt. Sie gilt erst einmal nur für den konkreten Fall, bei dem drei Somalier gegen ihre Zurückweisung nach Polen geklagt hatten. Wie in einem Hauptverfahren oder von anderen Verwaltungsgerichten entschieden würde, ist völlig offen.

„Wir halten an den Zurückweisungen fest“ Dobrindt will trotz Gerichtsentscheidung harten Migrationskurs fortsetzen

Doch die Erwägungen der Berliner Richter sind generell – und bringen Dobrindt und seine Leute damit unter erheblichen Zugzwang. Schließlich zerpflücken die Beschlüsse die Argumentationslinie des Innenministeriums in weiten Teilen.

Er sehe die rechtliche Grundlage für die Zurückweisung auch von Asylsuchenden darin, dass „wir Paragraf 18 Asylgesetz anwenden in Verbindung mit den bilateralen Verträgen, die wir mit unseren Nachbarländern haben“, hatte Dobrindt vor einigen Wochen seine Rechtsauffassung zusammengefasst. Und fügte an: „Und in Verbindung mit Artikel 72 AEUV“ – also des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union.

In der Hauptsache mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit rechtswidrig.

Aus dem Beschluss des Berliner Verwaltungsgerichts über die Zurückweisungen von Asylbewerbern an den Außengrenzen

Das Berliner Verwaltungsgericht ließ jedoch keine dieser Begründungen gelten. Vielmehr verwies es in seiner Entscheidung darauf, dass sich die Zurückweisung der Somalier an der Grenze und ihre Rückführung nach Polen „in der Hauptsache mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit als rechtswidrig erweisen“ werde. Die Begründung der Bundesregierung sei schlicht nicht ausreichend.

Und das Gericht schob noch einen Satz hinterher, der Dobrindts Vorgehen im Grunde aushebelt – zumindest für den Moment und im vorliegenden Fall: Die nationale Vorschrift, auf die sich der Bund bei der Einreiseverweigerung gestützt habe, komme „als Rechtsgrundlage für die Zurückweisung aufgrund vorrangigen Unionsrechts nicht in Betracht“.

EU-Recht schlägt deutsches Recht

Konkret heißt das: EU-Recht schlägt in dieser Frage deutsches Recht. Und dieses EU-Recht verlangt von Deutschland, ein sogenanntes Dublin-Verfahren durchzuführen, um zu prüfen, welcher EU-Staat für den Asylantrag zuständig ist. Erst danach könne „eine Rückführungsentscheidung getroffen werden“, so das Gericht.

Das bringt Merz und Dobrindt in eine prekäre Lage. Denn letztlich bedeutet es, dass Deutschland an seinen Außengrenzen auf europäische Regelungen angewiesen ist. Dabei geht die Entscheidung, eigenständig Zurückweisungen an den Grenzen vorzunehmen, zumindest in Teilen auf die Einsicht zurück, dass diese Regelungen nicht funktionieren.

Innenminister Alexander Dobrindt (l.) bei einem Besuch bei Bundespolizisten an der deutsch-österreichischen Grenze.

© IMAGO/Bihlmayerfotografie/IMAGO/Michael Bihlmayer

Daraus machte etwa Dieter Romann, Präsident der Bundespolizei, zuletzt kein Geheimnis: Das europäische Asylsystem sei „dysfunktional“, sagte er etwa bei einer Pressekonferenz mit Innenminister Dobrindt, andere EU-Mitgliedsstaaten hielten sich ja auch nicht an die gemeinsamen Regeln.

Das Berliner Gericht wies auch diese Beschwerde nun indirekt zurück: Dieser Umstand stelle „keine Rechtfertigung für eigenes unionsrechtswidriges Verhalten dar“. Die europäische Ebene, so scheint es, könnte für Deutschland mittelfristig der einzige Weg bleiben, um migrationspolitische Erfolge zu erzielen.

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Allein: Kann ein europäischer Weg angesichts der chronischen Uneinigkeit unter den Mitgliedsstaaten überhaupt funktionieren? Oder haben die Dublin-Verordnungen nicht bereits gezeigt, dass sich so das deutsche Ziel, nämlich dauerhaft niedrigere Einreisezahlen, nicht erreichen lässt?

„Viele Baustellen“ bei GEAS

Zumindest auf dem Papier gibt es längst einen neuen Pakt, der die Verteilung neu regeln und zu niedrigeren Zahlen führen soll: die Reform des gemeinsamen Europäischen Asylsystems, kurz GEAS. Dieses wurde im Mai des vergangenen Jahres beschlossen und soll von den Mitgliedsstaaten bis Juni kommenden Jahres umgesetzt werden. Der Kern der Reform besteht darin, Asylverfahren zukünftig an der Außengrenze in Kombination mit einem verpflichtenden Solidaritätsmechanismus durchzuführen, der die Verteilung der Flüchtlinge in Europa regelt.

Raphael Bossong ist Wissenschaftler an der Stiftung Wissenschaft und Politik. Dort leitet er seit 2016 den Bereich Justiz und Inneres in der Forschungsgruppe EU.

„Es gibt in diesem Pakt ganz viele Baustellen“, sagt Raphael Bossong, Migrationsforscher der Stiftung Wissenschaft und Politik. „Wir werden einen langen Atem brauchen und bestimmt noch zwei oder drei weitere Reformen.“

Dennoch sieht Bossong in der GEAS-Reform auch eine Chance, wie er sagt: „Man darf da jetzt nicht schon so rangehen, dass man erwartet, dass GEAS nicht funktionieren wird“.

Dieser Pakt ist bestenfalls eine Etappe auf dem Weg zu einem funktionsfähigeren Asylsystem.

Migrationsforscher Raphael Bossong über das geplante Asylsystem GEAS

Doch in der Tat ist das neue System vor allem eins: sehr kompliziert. Es sieht einerseits vor, dass auf dem Boden der EU in Grenznähe Aufnahmezentren entstehen sollen, in denen über Asylanträge entschieden werden kann. Während der Dauer des Verfahrens gelten die dort befindlichen Personen als nicht eingereist, was eine spätere Rückführung erleichtern würde.

Ob alle europäischen Mitgliedsstaaten bei diesem Verfahren mitziehen, ist offen. Ungarn unter Ministerpräsident Viktor Orbán gilt als potenzieller Ausreißer, die Haltung der polnischen Regierung ist offen. Und auch andere Komponenten, wie etwa ein neues Konzept für sichere Drittstaaten oder ein neuer Solidaritätsmechanismus, durch den Länder, die weiterhin keine Flüchtlinge aufnehmen wollen – stattdessen einen finanziellen Beitrag leisten können – sind innerhalb der EU noch weitgehend ungeklärt.

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Wegen dieser Schwachstellen rechnen manche Experten, wie etwa der Migrationsforscher Gerald Knaus damit, dass GEAS die Hoffnung auf eine spürbare Reduktion der Zuwanderung kaum erfüllen wird.

Auch Bossong sieht in GEAS keine perfekte Lösung: „Dieser Pakt ist bestenfalls eine Etappe auf dem Weg in ein funktionsfähigeres Asylsystem“, sagt er. „Aber es ist das Einzige, was wir bisher gemeinsam vereinbart haben. Und die Alternativen dazu, also eine noch stärkere Nationalisierung oder eine massive Verschärfung des Asylrechts, sind bestenfalls höchst riskant.“