Der Erfolg eines kleinen Fachgeschäfts in Berlin zeigt, dass die analoge Fotografie nichts von ihrem Reiz verloren hat. Ihre Anhänger widersetzen sich damit der digitalen Bilderflut – allein durch schiere Beharrlichkeit.
Berlin-Kreuzberg, ein ungemütlich kühler Tag im Mai. Vor der Hausnummer 134 in der Skalitzer Straße hastet ein Junkie vorbei, ruft nach „Schore“. Keine fünf Meter daneben trägt die Kunststudentin Lisa eine Handvoll Filmrollen über die Schwelle von „Foto Kotti“. Seit 1997 wird in dem Ladenlokal, das im Erdgeschoss eines monströsen Wohnblocks untergebracht ist, entwickelt, gescannt und vergrößert, der Geruch von Chemikalien liegt in der Luft. Als Anlaufstelle für Freunde der analogen Fotografie widersetzt sich das Labor am Kottbusser Tor der digitalen Bilderschwemme – nicht lautstark oder aktivistisch, sondern durch schiere Beharrlichkeit.
Auf dem Tresen türmen sich Filme mit Aufnahmen aus Mexiko, Japan und Frankreich. An Spitzentagen jagen die Inhaber Engo Ergün, 44, und sein Bruder Levo, 51, an die 500 Filmrollen durch ihre Maschinen. Die Leidenschaft der beiden hat tiefe Wurzeln: Schon als Teenager in der Türkei zerlegten sie Spiegelreflexkameras aus der Sowjetunion, tüftelten an improvisierten Entwicklungsdosen und richteten im Kinderzimmer provisorische Labore ein. Mit der Unterstützung ihres Vaters eröffneten sie später ein kleines Fotogeschäft in Izmir, bevor sie Anfang der 90er nach Berlin übersiedelten.
Dass die beiden ihr Handwerk verstehen, hat sich unter Profis ebenso herumgesprochen wie unter ambitionierten Hobbyfotografen. Zur Kundschaft von Foto Kotti gehören Studenten der renommierten Ostkreuzschule für Fotografie und der Universität der Künste, Modefotografen und Magazinredakteure, aber auch Amateure, die auf hochwertige Abzüge nicht verzichten wollen. Manche von ihnen fotografieren schon immer auf Film, andere haben vor Kurzem erst damit angefangen. „Film ist das Gegenteil von Perfektion“, sagt Joseph Turian, ein 44-jähriger Amerikaner, der seit acht Jahren nur wenige Gehminuten entfernt wohnt und Foto Kotti vor einiger Zeit entdeckt hat.
„Wer analog arbeitet, muss sich dem Zufall überlassen. Man kann nicht hundert Bilder schießen und dann das Beste auswählen. Man zielt, drückt ab und betet, dass man den richtigen Moment erwischt hat.“ Mit seiner Olympus Mju, einer kleinen und handlichen Kamera, die zwischen 1996 und 2007 gebaut wurde, dokumentiert Turian die nächtlichen Rituale von Menschen aus seinem Freundeskreis. Seine Farbaufnahmen zeigen Gesichter im Partylicht, flüchtige Momente der Verletzlichkeit zwischen Ekstase und Erschöpfung. „Meine Protagonisten sind es gewohnt, zu posieren“, sagt er. „Ich warte auf den Moment zwischen ihren Posen, um sie in einem natürlichen Zustand einzufangen.“
Obwohl heute fast jeder Mensch eine leistungsfähige Digitalkamera mit sich herumträgt, die in sein Smartphone integriert ist und mit der man in nahezu unbegrenzter Zahl hochauflösende Bilder machen kann, erlebt die analoge Fotografie derzeit eine erstaunliche Renaissance. Und das nicht nur in Berlin, sondern überall auf der Welt. Der Filmhersteller Kodak verzeichnete 2024 ein Umsatzplus von 38 Prozent und investierte 25 Millionen Dollar in den Ausbau seiner Fabrik in Rochester im US-Bundesstaat New York. IIlford, ein bedeutender Produzent von Schwarz-Weiß-Filmen und Fotopapier, steckte ebenfalls Millionen in neue Fertigungsanlagen. Auch das Geschäft mit analogen Fotoapparaten lohnt sich wieder: Die Firma Pentax kündigte eine neue 35-mm-Spiegelreflex an, die Wiedereinführung der klassischen Leica M6 im Jahr 2022 erwies sich als Volltreffer.
Authentische Technik
Das Revival der analogen Fotografie wird ausgerechnet von der Generation Z getragen, die mit dem Smartphone und seinen technischen Möglichkeiten aufgewachsen ist. An der Ostkreuzschule für Fotografie hat die Zahl der Bewerber in den vergangen fünf Jahren deutlich zugenommen, ebenso an der Neuen Schule für Fotografie in Berlin-Mitte. Die meisten Studenten, zwischen 18 und 25 Jahre alt, und haben wenig Interesse an digitaler Technik. Gerade die Selbstbeschränkung bei der Anzahl der Fotos scheint den Reiz der analogen Fotografien auszumachen – und die erforderliche Präzision, um im Fotolabor zu vorzeigbaren Ergebnissen zu kommen. „Unsere Studierenden wollen am liebsten nur mit Film arbeiten“, berichtet Dozent Klaus Weber. „Analog ist für sie authentischer.“
Am Tresen von Foto Kotti greift Engo Ergün derweil nach den Filmen, die in sorgsam beschrifteten Papiertüten verwahrt sind. Er verschwindet damit um die Ecke, wo sich das eigentliche Labor verbirgt. Dort rattern die Apparate mit einem Geräusch, als könnten sie jeden Moment den Geist aufgeben – dabei verrichten sie seit Jahrzehnten unermüdlich ihren Dienst.
Nur ein Gerät macht gerade Schwierigkeiten. Herr Kühn, ein rüstiger Ruheständler und ehemaliger Fuji-Servicetechniker, ist extra aus Süddeutschland angereist, um sich dem Problem zu widmen und den wertvollen Apparat zu reanimieren. Kühn gehört zu den wenigen, die noch frei stehende Entwicklungsautomaten von Typ E6 reparieren können. Während Ergün fieberhaft seine Kisten nach einem Ersatzteil durchforstet, wartet der Spezialist geduldig. Als die gesuchte Komponente endlich auftaucht, beginnt eine vorsichtige Choreografie aus Erklärungen und behutsamen Handgriffen, die das mechanische Herz des Labors wieder zum Schlagen bringen soll.
Kostspieliges Material
Im Umfeld des Fachgeschäfts hat sich eine Subkultur herausgebildet, die dem Fotografieren auf Film huldigt: Das Neuköllner Kollektiv Dunkel verwandelte eine leer stehende Kneipe für 15.000 Euro in einen Gemeinschaftsdarkroom. Sonntag ist Open-Tray-Day – für fünf Euro kann jeder seine eigenen Filme entwickeln. In Prenzlauer Berg teilen sich acht Hobbyfotografen eine Dunkelkammer in einem Hinterhof. Studenten der UdK planen die Wiedereröffnung des alten Fotolabors in der Kunsthochschule.
Dass sich die Anhänger der analogen Fotografie organisieren, hat auch ökonomische Gründe: Der Preise für die Chemikalien, die man zum Entwickeln und Fixieren des analogen Filmmaterials braucht, sind stark angezogen und haben sich Ergün zufolge in der vergangenen fünf Jahren verdreifacht. Auch das Filmmaterial selbst ist teuer geworden: Eine Rolle Kodak Portra 400 kostet mittlerweile 15 bis 20 Euro, Spezialsorten wie Cinestill schlagen mit mehr als 25 Euro zu Buche. Die jungen Menschen, die mit einer Pentax K1000 oder einer Canon AE-1 durch die Straßen von Berlin ziehen, überlegen sich deshalb bei jedem Motiv genau, ob sie auf den Auslöser drücken.
Foto Kotti ist auch deshalb so beliebt bei seiner Klientel, weil die Preise etwas günstiger sind als bei der Konkurrenz. „Noch wichtiger finde ich aber, dass die zwischenmenschliche Ebene stimmt“, sagt Mirjam Siefert, eine weitere Stammkundin, die seit Jahren ihre Filme zum Entwickeln herbringt. Als Weltenbummlerin jagt sie dem Licht hinterher, immer auf der Suche nach dem magischen Moment, der sich oft nur für Sekundenbruchteile offenbart. Aufträge des Magazins „Mare“ führen sie regelmäßig in die Ferne, wo sie mit viel Geduld an Langzeitprojekten arbeitet – Geschichten, die Zeit brauchen, um sich zu entfalten. Ihre Negative ruhen in einer eigenen Mappe im hinteren Teil des Labors – Sinnbild einer Arbeitsbeziehung, die auf Vertrauen basiert. Gelegentlich lässt sie Fotobücher da. Ergün hat vor, eine kleine Bibliothek aufzubauen.
Hinten im Labor ist es Herrn Kühn inzwischen gelungen, den defekten Entwicklungsautomaten wieder in Gang zu setzen. Ergün kommt zurück an den Tresen und erzählt von seinen Plänen: „Wir bauen unsere Dunkelkammer um, damit wir bald wieder hochwertige Baryt-Abzüge herstellen können.“ Nach Abschluss der Arbeiten soll in einem separaten Raum eine kleine Galerie entstehen, in der sowohl Newcomer als auch etablierte Fotografen der analogen Szene ihre Bilder ausstellen können.
Es ist Abend geworden am Kottbusser Tor, auf dem Gleisen gegenüber ruckelt die Hochbahn vorbei, Lichtstrahlen sprenkeln durch die Schaufensterscheiben. Eine türkische Mutter lässt noch schnell Passfotos von ihrer Tochter machen, drei Filmrollen landen im Einwurf. Der Tag endet, ein letzter Film wandert in den Automaten, die Chemikalien verrichten ihre Arbeit. Es entwickelt sich was.