Der alte Mann kämpft mit den Tränen. Er hat, wie so oft in der Vergangenheit, im „Papillon“ ein Buch gekauft. Heute weiß er: Es ist das letzte Mal. Ulrike Nagel drückt ihm die Hand zum Abschied. Viele Worte wechseln sie nicht. Dann wendet sich die Inhaberin der Buchhandlung schnell ab.
„Es ist wie ein Aderlass“, sagt Nagel und zeigt auf die halbleeren Regale, die der Räumungsverkauf hinterlassen hat. Das geht nicht spurlos an ihr vorbei, auch nicht an ihren Stammkunden. Viele Tränen fließen in diesen Tagen.
„Das war für viele eine Oase“, weiß Nagel und zeigt auf das kleine Reich, in dem sie sich zwei Jahrzehnte wohlgefühlt hat. Die dicken Holzbalken an der Decke, die Steinwand und der Brunnen bildeten den passenden Rahmen für die vielen Bücher, die es hier zu entdecken gab.
Klein und persönlich
Der Laden in der Cramergasse auf der Lindauer Insel ist so klein, dass zwangsläufig persönliche Verbindungen entstanden sind. Wer einen Rat brauchte oder etwas Bestimmtes suchte, für den waren Ulrike Nagel und ihre Mitarbeiterin Evi Eberhardt gleich zur Stelle.
Nagel hat viele Kinder groß werden sehen, aber auch schon einige Stammkunden betrauern müssen. Am 17. Juni ist der letzte Tag. Bis dahin muss sie noch viel erklären. Seit Wochen gehe es um die gleiche Frage: Warum schließt die Buchhandlung Papillon?
Schlussverkauf: Bis zum 17. Juni gibt es Bücher zum reduzierten Preis. (Foto: Yvonne Roither)
„Ich möchte aufhören, solange es mir noch gut geht“, sagt Nagel. Persönlich, aber auch bei der Arbeit. Ihr sei wichtig, die Entscheidung über den richtigen Zeitpunkt selbst treffen zu können.
2004 hat sie im Sommer ihren Laden eröffnet. Als 2009 „Stettner“ und dann auch die „Kleine Eule“ zumachten, sei die Buchhandlung Papillon plötzlich nicht nur die älteste, sondern auch die einzige in Lindau gewesen. Allerdings nur für kurze Zeit, wie Nagel lachend sagt.
Es war nicht immer leicht
Ihre Schwerpunkte lagen neben den Bestsellern und Klassikern von Anfang an auf Kinderliteratur und spirituellen Büchern. Das blieb auch so, als später weitere Buchhandlungen in Lindau öffneten.
Es war nicht immer einfach. Die Corona-Pandemie, Konkurrenz durchs Internet und der Buchriese Osiander, der vor sieben Jahren nur wenige Meter von ihr entfernt öffnete: Ulrike Nagel hat schwierige Zeiten überstanden.
Sie hatte zwar das kleinere Sortiment, aber sie war die Buchhandlung mit Lindau-Bezug. Von Anfang an hatten Lindauer Autoren wie Karl Schweizer, Werner Dobras oder Winfried Schlegel, die Lindaus Geschichte beleuchten, einen Platz in ihrer Buchhandlung.
Ein Dauerbrenner seien auch die Lindau-Krimis von Jakob Maria Soedher gewesen. „Die habe ich rauf- und runterbestellt“, sagt Ulrike Nagel.
Wenn sie von den Büchern ihres Lebens spricht, sprudelt es aus ihr heraus. Auf ein Lieblingsbuch will sich die erfahrene Buchhändlerin nicht festlegen. Zu viele hat sie gelesen, darunter viele gute. Und viele warten noch darauf, von ihr gelesen zu werden.
Das Schmetterlingssymbol – französisch „Papillon“ – steht für Entwicklung und Wandel. Nun stehen große Veränderungen an. (Foto: Yvonne Roither)
In den vergangenen zwei Jahren habe sie aber auch „Veränderungen im Literaturbetrieb“ beobachtet, die ihr nicht gefallen. Dass Verlage ganze Titel stornierten – Beispiel Winnetou – anstatt den Lesern die Entscheidung zu überlassen, verstehe sie nicht.
„Ich würde es wieder machen“
Langsam wird es ernst. Die Bücher aus der Kinderecke sind bereits in den vorderen Ladenbereich umgezogen, damit die Regale nicht allzu leer sind. Und diese Woche hat sich Ulrike Nagel von den Lindauer Schulen verabschiedet, mit denen sie eng zusammengearbeitet hat.
Wie geht es jetzt für sie weiter? „Das lasse ich auf mich zukommen“, sagt Nagel und spricht von einer „Neuausrichtung“.
Vieles scheint jetzt noch unsicher. Doch wenn Ulrike Nagel zurückblickt, weiß sie eins genau: „Ich würde es wieder machen. Das war mein Projekt.“