Der ukrainische Überraschungsangriff auf russische Bomber war ein schwerer Schlag für den Kreml – und zugleich der erste große militärische Erfolg der Ukraine in Monaten.

Zahlreiche Kommentatoren sprechen plötzlich wieder von einem ukrainischen Sieg. Doch das führt in die Irre: Unter aktuellen Bedingungen wäre das bestmögliche Szenario eine Entwicklung hin zu einem „ukrainischen Südkorea“.

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Woraus ein ukrainischer Sieg überhaupt bestehen soll, war niemals klar. Ging es um die Rückeroberung der seit dem 24. Februar 2022 besetzten Gebiete? Einen vollständigen Rückzug Russlands aus den seit 2014 besetzten Gebieten – einschließlich der Krim? Einen Sturz Putins, der den Angriffskrieg begonnen hat? Oder gar ein „Ende des russischen Imperialismus“, den viele für die Wurzel des Problems hielten?

Peter R. Neumann ist Professor für Sicherheitsstudien am King’s College in London.

Fest steht nur: Ein – wie auch immer definierter – Sieg ist im Laufe des Krieges in immer weitere Ferne gerückt. Trotz des erfolgreichen Schlags vom Wochenende hat sich die Frontlinie seit Oktober 2022 kaum verändert. Ukrainische Offensiven haben nicht den erhofften Durchbruch gebracht. Russland hingegen hat sich nach vielen Fehlern relativ erfolgreich auf einen „langen Krieg“ eingestellt.

Trump als Verbündeten gewinnen

Die für die Ukraine negativste Entwicklung seit dem Februar 2022 ist zweifellos die Rückkehr Donald Trumps.

Die Motive des US-Präsidenten reichen von einer tief sitzenden Abneigung gegenüber den Europäern, über das Streben nach einem Friedensnobelpreis, bis hin zum Ziel einer geopolitischen Neuausrichtung der USA. Der gemeinsame Nenner ist, dass er die Unterstützung für die Ukrainer herunterfahren und den Krieg so schnell wie möglich beenden will.

Eine neue, den veränderten Bedingungen angepasste Strategie ist deshalb nötiger denn je. Das fängt bei einer klaren Definition des Kriegsziels an.

Die wahrscheinliche Konsequenz aus Verhandlungen ist, dass die Ukraine die von Russland derzeit besetzten Gebiete – etwa zwanzig Prozent ihres Staatsterritoriums – auf absehbare Zeit verliert.

Peter R. Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am King’s College in London

Deutschlands Außenminister Johann Wadephul sprach vergangenes Wochenende nicht mehr von einem ukrainischen Sieg, sondern davon, dass sich das Land „erfolgreich gegen Russlands Aggression zur Wehr setzen“ müsse, sodass es „aus einer starken Verhandlungsposition auch stark hervorgehen“ könne. Eine „komplette Niederlage“ Russlands bezeichnete er als unwahrscheinlich.

Wird der Konflikt eingefroren?

Die nahezu sichere Konsequenz daraus ist, dass die Ukraine einen Großteil, wenn nicht sogar alle von Russland derzeit besetzten Gebiete – etwa zwanzig Prozent ihres Staatsterritoriums – auf absehbare Zeit verliert und der Krieg entlang der Frontlinie eingefroren wird.

Präsident Selenskyj zuletzt beim Vilnius-Gipfel der nordischen Staaten in Litauen.

© Foto: IMAGO/ZUMA Press Wire/IMAGO/Ukrainian Presidential Press Off

Außerhalb von Talkshows gilt das längst als ausgemacht. Denn es liegt in der Logik von Verhandlungen. So hat die Geostrategie-Abteilung der Investmentbank JP Morgan vor Kurzem eine Analyse erstellt, in der verschiedene Szenarien für eine Verhandlungslösung durchgespielt werden – in keinem wird eine Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete prognostiziert.

Stattdessen steht die Frage im Zentrum, was mit den verbleibenden achtzig Prozent des Landes geschieht.

  • Die wahrscheinlichste Entwicklung ist laut JP Morgan ähnlich der von Georgien, also hin zu einem zwar unabhängigen Staat, der aber von Russland so stark destabilisiert wird, dass die Integration in den Westen niemals gelingt.
  • Das optimistischste Szenario ist Südkorea, wo sich nach der Teilung des Landes im Süden eine wirtschaftlich erfolgreiche, westliche orientierte Demokratie entwickeln konnte. Die Chancen dafür liegen laut JP Morgan allerdings auch nur bei fünfzehn Prozent.

Welches Szenario eintritt, hängt laut der Studie von der Bereitschaft des Westens ab, Russlands militärische Ambitionen einzudämmen und die (Rest-)Ukraine bei ihrer Entwicklung finanziell und militärisch zu unterstützen.

Die Schlussfolgerung: Ohne amerikanische Sicherheitsgarantien und eine dauerhafte militärische Unterstützung wird die Ukraine enden wie Georgien – oder sogar wie der verarmte russische Satellitenstaat Belarus.

Russlands Imperialismus Grenzen setzen

Der Westen sollte also alles daransetzen, die Ukraine zu einer Art Südkorea zu machen. Es würde den „heißen“ Kriegszustand beenden und gäbe der großen Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung eine positive Perspektive im eigenen Land.

Erst wenn die Ukraine in der Lage ist, Russland ernsthaft militärisch unter Druck zu setzen, wird der Verhandlungstisch für Putin zur attraktiveren Option als das Schlachtfeld.

Peter R. Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am King’s College in London

Russlands Imperialismus würde dadurch nicht besiegt, aber ihm würden klare Grenzen gesetzt. Im Laufe der Zeit könnte – ähnlich wie im Kalten Krieg – eine Situation entstehen, in der der Erfolg des westlich orientierten Teils zum „Magneten“ für den Osten wird. Wie wir Deutschen wissen: Eine „Wiedervereinigung in Freiheit“ würde nicht morgen oder nächstes Jahr passieren, aber ausgeschlossen wäre sie nicht.

Um dieses Ziel zu erreichen, muss dreierlei passieren.

Erstens muss man Trump von dieser Idee überzeugen. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht, denn das Einzige, was Europa ihm bisher anzubieten hatte, war die Aussicht auf einen „endlosen Krieg“. Wenn Trump versteht, dass Europa einen realistischen Plan hat, um die „heiße Phase“ des Kriegs zu beenden, und auch bereit ist, die Kosten dafür zu tragen, könnte seine Reaktion anders ausfallen. Vielleicht wird dann auch eine amerikanische Sicherheitsgarantie möglich.

Die Bereitschaft zum Verzicht

Zweitens braucht es eine noch stärkere militärische Unterstützung der Ukraine. Solange Russland glaubt, es könne den unentschlossenen Westen einfach „aussitzen“, wird es sich nicht auf ernsthafte Verhandlungen einlassen.

Wie hier in Sumy überzieht Russlands Armee die Ukraine mit heftigen Angriffen.

© dpa/Uncredited

Auch wenn das kurzfristig nicht möglich ist, sollte Europa das Ziel verfolgen, den amerikanischen Beitrag zur Verteidigung der Ukraine so schnell wie möglich zu ersetzen. Denn erst, wenn die Ukraine in der Lage ist, Russland dauerhaft militärisch unter Druck zu setzen, wird der Verhandlungstisch für Putin zur attraktiveren Option als das Schlachtfeld.

Das dritte Erfordernis ist zugleich das schwierigste: die Bereitschaft zum Verzicht. Für Ukraine-Unterstützer ist das Südkorea-Szenario zweifellos eine Art „Verrat“. Doch welche Alternative bleibt?

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Selbst wenn die Ukraine militärisch wieder erstarken sollte, heißt das noch lange nicht, dass sie Russland vollständig aus ihrem Staatsgebiet vertreiben könnte. Schon 2022, als Russland noch viel schwächer und Amerika viel entschlossener war, ist dies nicht gelungen. Warum sollte das jetzt anders sein?

Falsch und unmoralisch ist eher die umgekehrte Position: Wer weiterhin Illusionen vom „totalen Sieg“ spinnt, nimmt der überwiegenden Mehrheit der Ukrainer ihre beste Chance auf eine positive Zukunft. Für sie wäre „Südkorea“ vielleicht kein „Sieg“, aber ein erster großer Schritt auf dem Weg in den Westen.