VorlesenNews folgenTeilen Menu auf machenArtikel teilen

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

wenn Sie den „Tagesanbruch“-Newsletter abonnieren möchten, nutzen Sie bitte diesen Link. Dann bekommen Sie ihn jeden Morgen um 6 Uhr kostenlos per E-Mail geschickt. Und hier ist der Tageskommentar:

Aufwühlende Nachrichten sind alltäglich geworden: Von morgens bis abends prasselt der News-Hagel auf Smartphones und Hirne ein. Die meisten Ereignisse sind heute wichtig und morgen vergessen, zumindest von den meisten Menschen. Der Informationsstrom fließt unaufhaltsam, und die Masse lässt sich mitreißen.

Für manche Menschen jedoch sind Nachrichten nicht so schnell vorbei, für einige sogar nie: Wer selbst zum Betroffenen eines erschütternden Ereignisses wird, trägt lebenslang Narben davon. So ist es in Kriegen wie in der Ukraine oder im Gazastreifen, so kann es auch bei plötzlichen Unglücksfällen geschehen: Eben noch war die Welt in Ordnung – von einem Moment auf den anderen stürzt sie in sich zusammen. Geliebte Menschen durch ein unerwartetes Unheil zu verlieren, ist furchtbar.

Loading…Symbolbild für eingebettete Inhalte

Embed

Umso zynischer, dass das Leid von Angehörigen ebenso wie Nachrichten den unerbittlichen Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie unterliegt: In den ersten Stunden nach einem Unglücksfall, wenn die Eilmeldungen klingeln, die Fotografen knipsen und die Fernsehbilder flimmern, wenn Politiker warme Worte sprechen, wenn Blumen niedergelegt und Tränen vergossen werden, stehen neben den Opfern auch deren Angehörige im Zentrum des Interesses. Doch schon wenige Tage später verschwinden sie aus dem kollektiven Bewusstsein: Der Nachrichtenstrom fließt weiter und die Masse der Menschen schwimmt mit zum nächsten Ereignis. Nur die Betroffenen bleiben mit ihrem Schmerz zurück.

Bei manchen geht dieser Schmerz nie weg. „Das eigene Kind zu verlieren, das ist unvorstellbar“, sagt Engelbert Tegethoff, der im März 2015 seine Tochter beim Absturz der Germanwings-Maschine in den französischen Alpen verlor. 150 Menschen kamen damals ums Leben. „Jetzt ist es schon das zehnte Jahr, und der Schmerz sitzt noch genauso tief. Man wacht damit auf, und man geht damit zu Bett“, sagt Tegethoff. Heute noch treffen sich Eltern der gestorbenen Schüler einmal im Monat, erinnern sich gemeinsam an ihre Kinder, weinen manchmal. Einige können es immer noch nicht fassen, dass der depressive Pilot nicht früher aus dem Verkehr gezogen wurde. Dass das Lufthansa-System nicht rechtzeitig Alarm schlug und den Massenmord verhinderte. Neben der Trauer lässt auch die Schuldfrage viele Angehörige ruhelos zurück.

Leichenwagen bringen am 10. Juni 2015 16 tote Schulkinder zurück nach Deutschland.Vergrößern des BildesLeichenwagen bringen am 10. Juni 2015 16 tote Schulkinder zurück nach Deutschland. (Quelle: Martin Meissner/AP)

Auch der ICE-Unfall von Eschede 1998 hat tiefe Narben hinterlassen. Damals kamen 101 Menschen ums Leben und weitere 105 wurden verletzt, als sich bei Tempo 200 ein Radreifen löste und die Waggons gegen einen Brückenpfeiler krachten. 27 Jahre ist das nun her, doch manche Hinterbliebene sind noch immer von Trauer gezeichnet. „Es ist keine Geschichte, die man so abhakt“, hat Heinrich Löwen, der damals Frau und Tochter verlor, vor einiger Zeit gesagt. Jahrelang kämpften die Angehörigen um Anerkennung, wurden vom Bahn-Management hingehalten, fühlten sich doppelt verletzt. Auch hier stand die Frage nach der Verantwortung, nach einer möglichen Schuld und ihrer angemessenen Bestrafung, lange ungeklärt im Raum.

Der zerstörte ICE in Eschede.Vergrößern des BildesDer zerstörte ICE in Eschede. (Quelle: imago images)

Heute ist wieder so ein Tag, an dem es um Schuld und Sühne, aber eben auch um Trauer geht: In Rom entscheidet ein Gericht, ob Francesco Schettino Hafterleichterung bekommt und in den offenen Strafvollzug wechseln kann, ob er also tagsüber das Gefängnis verlassen darf. Die Hälfte seiner rund 16-jährigen Haftstrafe hat der ehemalige Kapitän der „Costa Concordia“ nun abgesessen.

Als am 13. Januar 2012 das damals größte italienische Kreuzfahrtschiff vor der Mittelmeerinsel Giglio kenterte, berichtete die Weltpresse wochenlang. Immer neue haarsträubende Details des Unglücks kamen ans Licht: das waghalsige Manöver, mit dem der Kapitän den Gästen an Bord imponieren wollte. Die Dreiviertelstunde, die nach der Havarie verging, bis die Besatzung etwas unternahm. Die Passagiere, die in ihre Kabinen anstatt in die Rettungsboote geschickt wurden. Der Kapitän, der als einer der Ersten das Schiff verließ und sich hinterher herauszureden versuchte, er sei „ausgerutscht und auf ein Rettungsboot geplumpst“. Die moldauische Tänzerin, die der Kapitän nach dem Dinner im Bordrestaurant mit auf die Brücke genommen hatte. Und natürlich die Schicksale der 32 Menschen, die im Wrack des Unglücksschiffs starben. Darunter auch 12 Deutsche.

Die Rettung der Passagiere verlief chaotisch.Vergrößern des BildesDie Rettung der Passagiere verlief chaotisch. (Quelle: imago images)

Viele Überlebende der Katastrophe und viele Hinterbliebene leiden noch heute. Der Deutsche Matthias Hanke sah damals an Bord, wie zwei Frauen in einen Fahrstuhlschacht gesogen wurden. In einer Fernsehdokumentation schilderte er den Moment: „Da gab’s einen kurzen, heftigen Schrei von einer von den beiden Damen. Und da waren sie weg.“ Bilder und Geräusche, die nicht mehr aus dem Kopf gehen.

Die „Costa Concordia“ hingegen gibt es nicht mehr. Sie wurde nach Genua geschleppt und zerlegt; 1,5 Milliarden Euro kostete die Bergung: mehr als dreimal so viel wie ihr Baupreis. „Fare lo Schettino“ – „den Schettino machen“, ist in Italien zu einem geflügelten Wort für Feigheit geworden. Auch heute werden die Medien in ganz Europa noch mal über den Kapitän der „Costa Concordia“ berichten, wenn das Gericht in Rom seine Entscheidung bekannt gibt. Morgen werden dann wieder andere Nachrichten durch die Welt strömen. Trump, Putin, Fußball, was auch immer. Und die Betroffenen bleiben wieder zurück.

Die Frage der angemessenen Sühne für ein Verbrechen ist das eine. Das andere ist, dass sich viele Opfer von Unglücken und auch viele Hinterbliebene mehr Verständnis und manchmal eben auch mehr Aufmerksamkeit für ihr Schicksal wünschen. Ich denke, das haben sie verdient, das sollte eine solidarische Gesellschaft leisten. Viele Angehörige wird der Schmerz über ihre plötzlich aus dem Leben gerissenen Liebsten nie verlassen. Alle anderen – glücklicheren – Zeitgenossen können wenigstens an Jahrestagen wie dem heutigen etwas Anteilnahme zeigen.

Loading…

Loading…

Loading…