Spenge. „Lukas wollte halt nicht mehr im Wartezimmer neben Kindern sitzen“, sagt Frank Pillkahn. Sein Sohn ist mittlerweile 17 Jahre alt. Eigentlich sollte es nur ein einfacher Wechsel zum Hausarzt werden, weil sich Lukas mittlerweile zu alt für den Kinderarzt fühlt. Doch Lukas ist querschnittsgelähmt, hat Epilepsie und eine komplizierte Krankengeschichte. Er braucht verschiedene Medikamente und Therapien. Auf einmal muss die Familie jedoch kämpfen, um Medikamente zu bekommen, die Lukas schon seit Jahren nimmt. Der Arztwechsel wird zum Albtraum.

„Ich brauche einen Rolli“, sagt Lukas. Doch das ist nicht alles, was er braucht. Er nimmt mehrere Medikamente wegen seiner Epilepsie ein. Von Geburt an ist auch sein Hirnwasserablauf gestört. Deswegen hat er einen sogenannten „Shunt“ eingesetzt bekommen, also einen künstlichen Abfluss für das Hirnwasser. Wegen seiner Querschnittslähmung hat er zudem mit gewissen körperlichen Einschränkungen zu kämpfen. Auch dafür braucht er Medikamente und Ergotherapie. Über Jahre hinweg hat die Familie einen Behandlungsplan erstellt, mit dem sie zufrieden ist. Immer bekamen sie alles von Lukas’ Kinderärztin Franziska Sudbrak verschrieben.

Das ändert sich plötzlich, als Lukas im Oktober vergangenen Jahres zum Hausarzt wechselt. Statt alles von einer Ärztin zentral verschrieben zu bekommen, wird die Familie für verschiedene Teile der Behandlung zu verschiedenen Fachärzten geschickt, berichten die Pillkahns. Zudem habe wegen einiger Behandlungen ein Hin und Her mit ihrer Krankenkasse begonnen. Während dieser Zeit wird bei Lukas zu allem Überfluss auch noch eine Speiseröhrenentzündung festgestellt, in deren Folge er keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen kann. Die Folge: Weitere Gänge zu verschiedenen Ärzten und weitere Medikamente und Spezialnahrung, die die Familie besorgen muss.

„Man fährt für alles doppelt und dreifach hin und her“

„Auf einmal hörte man Wörter wie ’Budget’“, erinnert sich Frank Pillkahn. Und nicht nur das: „Man fährt für alles doppelt und dreifach hin und her.“ Ein neues Medikament für Lukas’ Speiseröhre hätten sie zum Beispiel zunächst nur im Krankenhaus verschrieben bekommen. Der Vater versucht, bei dem bürokratischen Aufwand Prioritäten zu setzen, ein Medikament nach dem anderen anzugehen. Doch ein gutes halbes Jahr nach dem Arztwechsel steht der Behandlungsplan, den die Familie jahrelang gewohnt war, immer noch nicht. So werden zum Beispiel eine Lymphdrainage und Spritzen, die Lukas seit Jahren nimmt, von der Krankenkasse immer noch nicht genehmigt. „Bei dieser ganzen Lauferei: Irgendwann fängt man an, Kraft zu verlieren“, sagt der Vater.

Die zuständige Krankenkasse bestätigt, dass die Lymphdrainage und die Spritzen noch nicht genehmigt seien. Bei der Lymphdrainage seien vom Hausarzt eingereichte Dokumente nicht ausreichend gewesen. Seit vergangenem Dezember gebe es dazu einen Schriftwechsel mit der Familie. Die Spritzen seien „nicht verordnungsfähig“, heißt es weiter.

Frank Pillkahn zeigt anhand eines alten Fotos, wie sehr die jüngste Erkrankung der Speiseröhre Lukas mitgenommen hat. - © Jan-Henrik Gerdener

Frank Pillkahn zeigt anhand eines alten Fotos, wie sehr die jüngste Erkrankung der Speiseröhre Lukas mitgenommen hat.
(© Jan-Henrik Gerdener)

Verkompliziert wird alles durch Lukas’ akute neue Speiseröhrenentzündung, die auch mehrere Eingriffe erforderlich macht, wie Frank Pillkahn berichtet. Durch die gestörte Nahrungsaufnahme nimmt sein Sohn in der Zeit erheblich ab. Der Zustand von Lukas sorgt bei der Familie für zusätzliche Belastung. „Ich will nur, dass es meinem Sohn gut geht“, sagt Frank Pillkahn.

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Doch was macht es der Familie so schwer? „Ein Patient wie Lukas Pillkahn überschreitet an allen Ecken und Enden die Budgets“, erklärt Kinderärztin Franziska Sudbrak, die ihn jahrelang behandelt hat. Die „Budgets“ von Arztpraxen werden relevant, wenn sie diese überschreiten. „Am Ende des Quartals bildet die Kasse eine große Summe aller verursachten Kosten für Medikamente, die Sie verordnet haben. Liegen Sie dann als einzelner Arzt deutlich über dem Durchschnitt ihrer vergleichbaren Kollegen, kriegen Sie einen ’Regress’ – egal, ob im Einzelnen alles gerechtfertigt war. Zum Schluss geht es darum, nicht mehr zu verordnen als ihre Vergleichsgruppe“, erklärt Sudbrak.

Nach einem halben Jahr zieht die Familie die Reißleine

Eine Regressforderung bedeutet: Der Arzt muss begründen, warum er eine Behandlung verschrieben hat, ansonsten muss er die Kosten selbst übernehmen. „Da müssen Sie der Kasse auf einmal 30.000 Euro zahlen. Als kleiner Arzt sind Sie da ruiniert“, sagt Sudbrak. „Das wollen alle Ärzte vermeiden.“

In jedem Fall bedeute es für den behandelnden Arzt viel Arbeit, selbst wenn er das Geld am Ende wiedersehe. „Dann schreiben Sie einen 30-seitigen Brief zurück, sehen zwei Jahre das Geld nicht, bis die Schiedsstellen bei der Krankenversicherung die Auszahlung der 30.000 Euro genehmigen“, sagt Sudbrack. Dass eine Kinderärztin wie sie der Familie alles verschreiben konnte, Hausarzt und Fachärzte das nun aber nicht mehr so pauschal tun, erklärt sich Sudbrak mit den Unterschieden im Patientenstamm. Während sie vielleicht nur einen Patienten wie Lukas habe, hätten Hausärzte mehr Patienten mit chronischen oder langfristigen Erkrankungen, weil sie ja auch deutlich mehr ältere Menschen betreuen.

Familie Pillkahn zieht schließlich die Reißleine. Nach rund einem halben Jahr geht Lukas Pillkahn wieder zur Kinderärztin. „So lange es geht, bleibt Lukas Pillkahn in kinderärztlicher Behandlung“, sagt Franziska Sudbrak. Familie Pillkahn hofft, dass wenn Lukas schließlich doch aufgrund seines Alters gezwungen sein wird, dauerhaft zu einem Hausarzt zu wechseln, sich mit Hilfe seiner Kinderärztin ein besserer Weg auftut.