Der Bau der Karl-Marx-Allee war wohl eines der kühnsten Projekte der DDR – eine Machtdemonstration des sozialistischen Musterstaates – und visionäres Manifest der Moderne zugleich. Groß, breit, monumental: ein Boulevard für ein neues, zukunftsweisendes Deutschland – gebaut für die Ewigkeit. Doch von der einstigen Prachtstraße mit ihren klassizistischen Fassaden und ikonischen Bauten im International Style, ist wenig geblieben.

Wer sich die Zeit nimmt und die rund zwei Kilometer lange Straße einmal zu Fuß begeht, versteht warum. Streng genommen gibt es nämlich nicht die eine Allee, sondern einen Ost- und einen Westabschnitt. Der ältere, östliche Teil erstreckt sich zwischen dem Frankfurter Tor mit den zwei prägnanten Kuppelbauten und dem Strausberger Platz. Hier dominiert der sozialistische Klassizismus der frühen 1950er-Jahre: hohe Sockelzonen, mächtige Arkaden, pittoresk anmutende Reliefs.

Die Erdgeschosszonen werden überwiegend öffentlich genutzt. Und manche Geschäfte und Restaurants halten sich bis heute – das Café Sibylle ist eines davon. Doch viele Läden sind längst verschwunden oder wurden zu sterilen Showrooms mit allerlei Schnickschnack umfunktioniert, eben alledem, was anderswo keinen Platz findet.

In den Erdgeschosszonen im östlichen Teil der Allee befinden sich überwiegend öffentliche Nutzungen. Dennoch stehen auch hier viele Läden leer.

In den Erdgeschosszonen im östlichen Teil der Allee befinden sich überwiegend öffentliche Nutzungen. Dennoch stehen auch hier viele Läden leer.Markus Wächter / Berliner Zeitung

Anders der westliche Teil, zwischen Strausberger Platz und Karl-Liebknecht-Straße. Dort reihen sich Plattenbauten der 1960er-Jahre – genauer gesagt die Bautypen WBS 70 und P2 – aneinander. Dazwischen das berühmte Kino International, das Café Moskau oder das Haus des Lehrers von Hermann Henselmann, dem Generalplaner der Allee.

Im Gegensatz zum Westteil der Karl-Marx-Allee finden sich hier deutlich weniger öffentliche Nutzungen. Das Kino International ist der einzige Ort, an dem überhaupt noch kulturelles Leben stattfindet – doch das ist seit einem Jahr wegen Sanierung geschlossen.

In Wellen rauschen hier die Autos vorbei; ein Wolt-Bote kreuzt mit dem Rad den Boulevard. Ein einsamer Anwohner spaziert mit dem Hund entlang. Manchmal verirren sich auch ein paar Touristen in der Hoffnung auf Instagram-taugliche Kulissen hierher. So schnell wie sie gekommen sind, gehen sie meist auch wieder.

Deutlich ruhiger geht es im westlichen Teil der Allee zu. Hier dominieren Bauten der Moderne, wie etwa das berühmte Café Moskau. Ab und an zieht ein Radfahrer vorüber, ansonsten passiert nicht viel.

Deutlich ruhiger geht es im westlichen Teil der Allee zu. Hier dominieren Bauten der Moderne, wie etwa das berühmte Café Moskau. Ab und an zieht ein Radfahrer vorüber, ansonsten passiert nicht viel.Markus Wächter / Berliner Zeitung

Von einem derart maßlosen Städtebau ist ja auch gar nicht viel anderes zu erwarten, wird der kritische Leser nun sagen. Das Argument ist berechtigt – und greift doch zu kurz. Hierzu hilft ein Blick in die Vergangenheit: Bereits 1990 wurde das Gebiet unter Denkmalschutz gestellt und gilt seitdem als Europas größtes Flächendenkmal. Das ist zunächst einmal gut, denn es zeigt, dass der kulturhistorische Wert dieses Bauensembles erkannt wurde.

Doch in der Praxis hat sich der Schutzstatus eher negativ auf die Karl-Marx-Allee ausgewirkt. Wegen der hohen Denkmalschutzauflagen scheuen Investoren und Gewerbetreibende seit jeher das Gebiet und zahleiche Objekte stehen leer. Zudem sind viele Liegenschaften in privater Hand, was eine städtebauliche Entwicklung des Gebiets tendenziell erschwert.

So wie bisher, kann es also nicht weitergehen. Doch statt sich zu fragen, wie die Zukunft der Karl-Marx-Allee aussehen könnte, wird hier am Sonntag der Karneval der Kulturen gefeiert. Auf einer Straße, die mit Diversity ungefähr genau so viel am Hut hat wie ein Trachtenverein mit der Berliner Rave-Szene.

Anwohner fürchten schon jetzt Schäden und Schmutz – und sie haben Grund zur Sorge. Denn zwischen 1997 und 2019 fand hier die Biermeile statt. Ein großes Spektakel, das regelmäßig im desaströsen Chaos endete: mit Müllbergen, beschädigten Grünanlagen und frustrierten Anwohnern.

Die Bilder jener Nächte sind hier vielen noch präsent. Dass man den Karneval von Kreuzberg ausgerechnet hierher verlegt hat, halten nicht wenige für fahrlässig. Im Schadensfall könnte nicht nur wertvolle Bausubstanz zerstört werden, sondern auch Anwohner abermals auf ihren Schäden sitzen bleiben. Letzteres mag verwirren – steht doch das gesamte Gebiet unter Denkmalschutz. Jedoch wird hierdurch primär die bauliche Substanz, nicht aber die Interessen der Anwohner geschützt. Es besteht daher kein automatischer gesetzlicher Entschädigungsanspruch, nur weil man in einem Denkmalensemble wohnt.

Nichtsdestotrotz wäre es laut Denkmalexperten die politische Pflicht der Stadt, in sensiblen Quartieren wie diesem für klare Regeln zu sorgen. Und die Veranstalter konsequent in die Verantwortung zu nehmen, wenn Schäden entstehen.

Das Internationale Berliner Bierfestival, auch bekannt als „Biermeile“, fand von 1997 bis 2019 alljährlich auf der Karl-Marx-Allee in Berlin-Friedrichshain statt. Es erstreckte sich über 2,2 Kilometer zwischen dem Strausberger Platz und dem Frankfurter Tor.

Das Internationale Berliner Bierfestival, auch bekannt als „Biermeile“, fand von 1997 bis 2019 alljährlich auf der Karl-Marx-Allee in Berlin-Friedrichshain statt. Es erstreckte sich über 2,2 Kilometer zwischen dem Strausberger Platz und dem Frankfurter Tor.Sabine Gudath

Doch genau das blieb bei früheren Straßenevents aus. Das Problem: Wer Schäden geltend machen will, muss erst einmal nachweisen, dass diese eindeutig durch die Veranstaltung verursacht wurden. Hinzu kommt, dass Mittel aus Kautionen und behördlichen Auflagen in der Regel ausschließlich für die Instandsetzung öffentlicher Infrastrukturen vorgesehen sind, nicht aber für individuelle Schadensersatzforderungen.

Auch unklar ist, wie es überhaupt zur Entscheidung kam, den Karneval in die Karl-Marx-Allee zu verlegen. Auf Anfragen der Berliner Zeitung reagierte der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ausweichend und verwies an den Senat: Dort sei schließlich die Entscheidung erfolgt.

Um die Schäden zu minimieren, habe der Bezirk jedenfalls „verschiedene Auflagen und eine Sicherheitsleistung“ eingefordert. Auch eine Haftpflichtversicherung sei Bedingung.

So wie hier in Kreuzberg könnte es am Sonntag Abend auch in der Karl-Marx-Allee aussehen. Anwohner fürchten Schmutz und Schäden. Im Schadensfall könnten Sie auf ihren Kosten sitzen bleiben.

So wie hier in Kreuzberg könnte es am Sonntag Abend auch in der Karl-Marx-Allee aussehen. Anwohner fürchten Schmutz und Schäden. Im Schadensfall könnten Sie auf ihren Kosten sitzen bleiben.IMAGO/A. Friedrichs

Ob das reicht, um Schäden an der historischen Bausubstanz zu verhindern? Denkmalpfleger sehen das kritisch und monieren zudem, dass man das Event als „Karneval“ bezeichnet, obwohl es mit dem klassischen Karneval kaum etwas gemein hat.

Was die Karl-Marx-Allee braucht, ist kein weiteres Spektakel, darin sind sich die Experten einig. Die Berliner Prachtstraße braucht Perspektive, ein langfristig angelegtes Nutzungskonzept und konkrete städtebauliche Maßnahmen. Und vielleicht bekäme die Allee dann auch ihr eigenes Karnevals-Fest – und zwar eines, das zu ihr passt.

Doch: Wir wollen nicht den Teufel an die Wand malen. Vielleicht erleben wir morgen ja eine große Überraschung und der Karneval haucht der Karl-Marx-Allee neues Leben ein. Es wäre eine unverhoffte Renaissance. Aber wie wir wissen, ist in Berlin selbst das Unwahrscheinliche stets im Bereich des Möglichen.