Wenn wir über Ostmoderne reden, haben vermutlich die meisten Menschen monotone Plattenbauten vor Augen. Zu Unrecht?

Milatz: Osten und Moderne in einem Wort vereint, das ist schon mal eine schöne Begrifflichkeit. Es ist auch ein großartiges Zusammentreffen, Festivalort zu sein in diesem Jahr, in dem Neubrandenburg 777 und das Haus der Kultur und Bildung 60 Jahre alt wird. Wie sehr die Stadt von der Ostmoderne geprägt ist, ermöglicht uns, sie überregional sichtbar zu machen. Wir sollten die Qualitäten nicht verkennen: In Plattenbauweise konnten effizient in kurzer Zeit viele Wohnungen entstehen. Und viele Leute haben sich gefreut, so eine Wohnung zu bekommen! Die Monotonie kann man natürlich nicht verteidigen. Aber dem gegenüber stehen Besonderheiten wie Ulrich Müthers Stadthalle oder das HKB mit seinem schlanken Turm, in dem damals übrigens viele Vereine wirken konnten – heute muss man die Räume teuer mieten.

Susann Milatz und Ullrich Schmidt führen gemeinsam ein Architekturbüro, das viele stadtbildprägende Projekte in Neubrandenburg begleitet.

Susann Milatz und Ullrich Schmidt führen gemeinsam ein Architekturbüro, das viele stadtbildprägende Projekte in Neubrandenburg begleitet. (Foto: Susanne Schulz)

Schmidt: Nachdem der Wiederaufbau der kriegszerstörten Neubrandenburger Innenstadt in den 50er Jahren von nationaler Tradition geprägt war, erfolgte mit diesem Bau nach dem Wettbewerbsentwurf von Iris Grund in den 60ern ein Break zurück in die Moderne. Wir sollten also den Begriff Ostmoderne nicht auf den Wohnungsbau reduzieren. Natürlich gibt es die große Masse von Plattenbau-Blocks, aber durch eine einfache, solide Basis haben Highlights überhaupt erst die Chance zu strahlen.

Das Festivalprogramm für „Women in Architecture“ ist auch eine Hommage an Iris Grund, die von 1970 bis 1990 Neubrandenburgs Stadtarchitektin war und als eine der einflussreichsten Architektinnen der DDR gilt. Eine Ausnahme-Biografie?

Milatz: Iris Grund hat diese Stadt geprägt. Im ganzen Land gab es nur drei Frauen in der Position einer Stadtarchitektin, eine davon hier in Neubrandenburg. Mit 26 Jahren hatte sie den Wettbewerb zur Gestaltung des HKB gewonnen und stand es durch, diesen Bau zu leiten. Inwieweit das politisch instrumentalisiert wurde, ist eine andere Sache. Aber sie hat es geschafft, hat die Termine gehalten, die Kosten gehalten – sie hatte Erfolg.

Schmidt: Sie bewies damit auch, dass in industrieller und vorgefertigter Bauweise schneller und effizienter gebaut werden kann. Bis dato war es in der Innenstadt üblich, Wohnhäuser in traditioneller Ziegelbauweise zu errichten. Ihre Idee bei der weiteren Stadtplanung war unter anderem, dass es von den neuen Wohngebieten aus immer einen Bezug in Richtung Zentrum gibt.

Iris Dullin-Grund, geboren 1933, prägte viele Jahre lang die bauliche Entwicklung des modernen Neubrandenburgs.

Iris Dullin-Grund, geboren 1933, prägte viele Jahre lang die bauliche Entwicklung des modernen Neubrandenburgs. (Foto: NK-Archiv/Hans Wotin)

Konnte sie als Wegbereiterin wirken für den heutigen Rang von Frauen in der Architektur?

Milatz: Bei Architektur-Studierenden sind heute etwa 54 Prozent weiblich. Mit Eintritt in die Familienphase reduziert sich dann der Anteil selbstständig tätiger Architektinnen deutlich. Insgesamt ist der Beruf nach wie vor männlich dominiert. Vielleicht unterscheidet sich das etwas zwischen den Bereichen Hochbau, Landschaftsarchitektur, Innenarchitektur und Stadtplanung. Ich bin sicher, dass Frauen wenigstens genauso gut sind, aber das wird weniger wahrgenommen.

Schmidt: Selbst bei Büro-Tandems wie uns werden landläufig eher die Männer angesprochen, gelten als die „Entwerfer“. Ob es eine weibliche, feministische Architektur gibt, fiele mir schwer zu sagen.

Täglich Neues im ArchitekturSalonFestivalprogrammTäglich Neues im ArchitekturSalon

19. 6., 13.30 Uhr, Haus der Kultur und Bildung: Dialog-Veranstaltung „Ostmoderne erleben – Neubrandenburg und das Erbe der Architektin Iris Grund“ mit Vorträgen, Zeitzeugen-Gespräch, Führung durchs HKB und Film „Sonntag, den … Briefe aus einer Stadt“

20. bis 28. 6., Turmstraße 15: ArchitekturSalon mit täglich wechselnden Formaten (20. 6. Ausstellung „Planer:innen der Region“, Beiträge planender Frauen; 21. 6. Rereading Iris Grund; 23. 6. Vielfalt des Berufsbildes; 24. 6. Bachelor-Thesis Landschaftsarchitektur, Clubabend des Hochschulfördervereins; 25. 6. Stadt entwickeln – früher und heute; 27. 6. Kunst im öffentlichen Raum; 28. 6. Architektur lesen)

26. 6., 19.30 Uhr, Latücht: Film „Unser kurzes Leben“ nach Brigitte Reimanns Roman „Franziska Linkerhand“

Am 29. 6. wird zum Tag der Architektur außerdem der Erweiterungsbau der Hochschule Neubrandenburg vorgestellt (ab 12 Uhr). Zum Festival „Women in Architecture“ gehören in Mecklenburg-Vorpommern noch Stadtführungen zum Thema „Töchter der Hanse“ in Wismar am 19. 6. und der Filmabend „E.1027 – Eileen Gray und das Haus am Meer“ im Rostocker Lichtspieltheater Wundervoll am 27. 6.

Gibt es sie, Frau Milatz?

Milatz: Ich bin ost-sozialisiert, aufgewachsen mit zwei Brüdern und mit der Selbstverständlichkeit, gleichberechtigt zu arbeiten. Was zählt, ist fachliche und menschliche Kompetenz; es geht um die Funktionsfähigkeit eines Gebäudes und darum, dass Menschen sich darin wohlfühlen.

Brauchen Sie dennoch als Frau in diesem Beruf besonderen Willen, besonderen Mut?

Milatz: Willen auf jeden Fall. Ich habe in meiner Jugend viel Sport gemacht, daher kann ich mich durchsetzen, immer wieder motivieren. Ich habe zwei Kinder allein großgezogen, habe 20 Jahre angestellt gearbeitet und mich dann mit über 40 in die Selbstständigkeit getraut. Letztlich muss man immer aktiv und ambitioniert sein.

Und Verzicht üben?

Milatz: Durch die politische Wende habe ich darauf verzichtet zu promovieren, weil ich endlich bauen wollte. Sehr wichtig waren mir neben dem beruflichen Anspruch auch meine Kinder, die Leistungssport trieben. Wenn ich auf etwas verzichtet habe, dann vielleicht auf eigene Hobbys.

Ostmoderne im Stadtzentrum von Neubrandenburg, überragt vom HKB-Turm

Ostmoderne im Stadtzentrum von Neubrandenburg, überragt vom HKB-Turm (Foto: Susanne Schulz)

Wie steht es heute um den Traumberuf Architektur, um den Berufsnachwuchs?

Milatz: Das ist ein großes Thema. Wenn wir heute noch mal ein Büro gründen wollten, dann in einer Stadt, wo es einen Studiengang gibt. Es ist ein Drama, dass es in Neubrandenburg auch keinen Vollstudiengang Bauingenieurwesen gibt (Anm. d. Red.: Der Studiengang wurde 2012 abgewickelt, seit 2022 gibt es wieder zwei Einstiegssemester, mit anschließendem Wechsel an die Hochschule Wismar). Wir versuchen immer wieder, Professoren aus Wismar zu studentischen Exkursionen in die Region zu locken. Und Stettin, wo Architekten und Bauingenieure ausgebildet werden, ist theoretisch nicht weit weg, aber praktisch mit öffentlichem Nahverkehr unerreichbar. Wir brauchen den kompletten Studiengang hier, wir brauchen die Unterstützung der Politik, und wir brauchen auch Exkursionen, um Studierende und Absolventen für uns, für die Region zu begeistern.

Was bedeutet eigentlich Bauen heute – haben Sie auch den Eindruck einer glatten, rechtwinkligen Gleichförmigkeit, im Vergleich zu charaktervollen Bauten vergangener Zeiten?

Milatz: Das finde ich nicht. Allerdings gibt es einen gewissen Druck, Wohnraum zu schaffen. Dafür brauchen wir nach großem Bevölkerungsschwund immer noch und immer wieder neue Strategien. Zugleich dürfen wir uns nicht nur von Förderprogrammen abhängig machen.

Schmidt: Neubrandenburg ist durch die Zerstörung 1945 seiner Geschichte beraubt worden, es hat natürlich nicht den Charme einer mittelalterlichen oder Gründerzeit-Stadt. Trotzdem ist es ein Traum, in der Innenstadt zu wohnen.

Ostmoderne mal anders: Die Stadthalle Neubrandenburg ist in der berühmten Hyparschalen-Konstruktion des Bauingenieurs Ulrich Müther errichtet.

Ostmoderne mal anders: Die Stadthalle Neubrandenburg ist in der berühmten Hyparschalen-Konstruktion des Bauingenieurs Ulrich Müther errichtet. (Foto: Dominic Schmidt)

Ist Bauen gleichbedeutend mit Sparzwang?

Milatz: Geld hat man nie genug – zumal wir zu 80 bis 90 Prozent für die öffentliche Hand arbeiten. Aber auch private Investoren haben ihre Budgets. Unser Prinzip ist es, von Anfang an offen zu kommunizieren, was damit möglich ist.

Angesichts all der Projekte, die Sie schon begleitet haben, Schulen und Stadthalle, Kitas und Kirchen, Wiekhaus und Wohnquartier: Gibt es ein Wunschprojekt, das Ihnen besonders wichtig wäre?

Milatz: Wir haben als kleines Büro ja schon eine irre Vielfalt gebaut. Aber etwas Besonderes ist für mich in Anklam, wo ich aufgewachsen bin, die Umnutzung der Schwimmhalle, die von der Zuckerfabrik erworben wurde. Da hängt Herzblut drin, ebenso wie viele Anklamer eine hohe emotionale Bindung zu dem Bau haben.

Ein Herzensthema ist Ihnen auch das Festival „Women in Architecture“. Welche Wirkung wollen Sie erzielen?

Milatz: Wir konnten das Festival mit vier starken Partnern – der Architektenkammer MV, der Stadt Neubrandenburg, der Wohnungsgesellschaft Neuwoges und dem Veranstaltungszentrum VZN – hierherholen und mussten uns nicht mal ein künstliches Thema ausdenken: Die Ostmoderne drängt sich ja auf. Zur halbtägigen Eröffnungsveranstaltung gehört neben Vorträgen von Fachleuten aus Wien und Schwerin sowie Zeitzeugen-Gesprächen auf dem Grünen Sofa auch ein starkes literarisches Pfund mit Brigitte Reimanns Text im Filmessay „Sonntag, den …“ – da geht einem das Herz auf, was diese Stadt ausstrahlt.

Schmidt: Außerdem gestalten wir zusammen mit Kollegen ein täglich wechselndes Programm in einem leerstehenden Ladenlokal in der Turmstraße als temporären ArchitekturSalon, mit einer kleinen Ausstellung und der Idee, sich zu Architektur, Neubrandenburg und planenden Frauen auszutauschen, in Dialog zu treten – wir freuen uns auf viele Gäste und Interessierte.