Stuttgart. Im Mai 2025 ist ein Obdachlosenlager in Bad Cannstatt in Brand geraten. Das Feuer, kein Zufall. Zwei junge Männer haben Feuerwerkskörper in Richtung der dort schlafenden Menschen geworfen. Verletzt wurde bei dem Vorfall niemand und doch wirft der Angriff Fragen nach der Sicherheit der Schwächsten und der Wichtigkeit von Zivilcourage auf. Zwei Zeugen berichten über eine Nacht, die sie so schnell nicht vergessen werden.

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Angriff auf Obdachlose in Stuttgart: Was am 18. Mai, an der „Hall of Fame“ passiert ist

In der Nacht vom 17. auf den 18. Mai sind Lisa A. und Tom B. (Namen von der Redaktion geändert) noch spät nachts unterwegs, als sie Zeugen der Tat werden. Bei ihrem Spaziergang kommen sie an der „Hall of Fame“, der Graffiti-Unterführung unweit vom Wasengelände, vorbei. Das Pärchen schaut dort hin und wieder nach einem der Obdachlosen – so auch in dieser Nacht.

Die zwei Tatverdächtigen kommen ihnen entgegen, mit einem abschätzenden Blick, wie sie erzählen. Von einer Treppe aus sollen sie ihr vollendetes Werk beobachtet und dabei weitere Feuerwerkskörper auf die Menschen geworfen haben. Durch ihren Angriff gerät nicht nur eine Wand in Brand. Mehrere Schlafsäcke, Matratzen und Habseligkeiten werden zerstört. Brandlöcher zieren nun das wenige Hab und Gut der Obdachlosen.

Lisa A. und Tom B. gelingt es, einen der Tatverdächtigen zu schnappen und diesen bis zum Eintreffen der Polizei festzuhalten. Der andere entwischt jedoch. Eine weiträumige Suche der Polizei blieb ohne Erfolg. Das Feuer, welches sich glücklicherweise nicht stark ausgebreitet hatte, konnte vollständig gelöscht werden, die Erinnerung daran aber bleibt.

Obdachloser Brand Hall of Fame Die Matratze und der Schlafsack wurden bei dem Feuer in Mitleidenschaft gezogen. © PrivatProblem: Obdachlose alarmieren nicht immer die Polizei

Das Polizeipräsidium Stuttgart konnte den Vorfall an der „Hall of Fame“ bestätigen. Es wurde eine Anzeige wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung erstattet. Wie Lisa A. und Tom B. erzählen, handelt es sich bei den Tätern um Jugendliche. Über das genaue Alter konnte die Polizei keine weitere Auskunft geben. Auch nicht darüber, ob der zweite Täter noch flüchtig ist. Generell liegen zum Fall nicht viele Informationen vor. Laut Polizei laufen die Ermittlungen noch.

Auf die Frage hin, ob solche Vorfälle des Öfteren geschehen, kommt eine ernüchternde Antwort: „Mir ist jetzt kein konkreter Fall bekannt, aber das kann man auch schlecht auswerten“, so eine Pressesprecherin der Polizei. „Das große Problem ist, dass Obdachlose häufig gar nicht erst die Polizei informieren, wenn etwas passiert.“

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Gewalt gegen Obdachlose in Deutschland keine Seltenheit

Fälle, bei denen Obdachlose zum Ziel werden, sind keine Seltenheit. Im November 2018 sind in Berlin zwei obdachlose Menschen von einem Mann angezündet worden, einer verliert dabei sein Leben. In Stuttgart hat es in 2022 eine Serie von Farbattacken gegeben. Physisch verletzt wurden die Personen dabei nicht, aber psychisch ging der Vorfall sicher nicht an ihnen vorbei. Im vergangenen Jahr ist eine obdachlose Frau in Dortmund Opfer eines Brandanschlags geworden – sie überlebt, weil sie sich noch gerade rechtzeitig aus ihrem brennenden Zelt retten konnte.

Das sind Fälle, die es in die Schlagzeilen geschafft haben, doch die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein. „Bereits viermal haben wir miterlebt, wie Obdachlosen Gewalt angetan wurde – Raubüberfälle, Demütigungen und jetzt der Brand“, sagt Lisa A.. Die zwei wohnen in Stuttgart und schauen mittlerweile mehrfach die Woche bei einem der Obdachlosen vorbei, aus Mitgefühl.

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Leben auf der Straße nicht nur hart, sondern auch gefährlich

Der Mann, der von Lisa A. und Tom B. hin und wieder versorgt wird, ist ihren Angaben nach etwa 70 Jahre alt und lebt seit geraumer Zeit auf der Straße. „Er will dort („Hall of Fame) eigentlich nicht mehr bleiben, aber er weiß auch nicht, wohin sonst“, sagt Tom B.. Er habe sich da sein Leben eingerichtet. „Der Mann hat seine festen Stationen, die er am Tag abklappert und weiß, wo er mal eine Bratwurst oder Ähnliches gratis bekommt“, so Lisa A. über ihren neu gewonnen Bekannten. „Manchmal bringen wir ihm was zu essen – ein Sandwich, mal Pizza“, sagt Tom B.. Es ginge einfach darum, etwas Menschlichkeit zu zeigen. Plötzlich ohne alles dazustehen – ohne Wohnung, ohne Sicherheit – kann jeden treffen, wie sie finden.

Ein Leben auf der Straße ist nicht nur hart, sondern auch gefährlich, wie eine Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) in 2022 belegen konnte. Zwei Drittel der Befragten gaben dabei an bereits Gewalterfahrungen gemacht zu haben. Auch wenn es in Stuttgart Notunterkünfte gibt, werden diese von Obdachlosen nicht immer genutzt. Die Gründe dafür sind vielfältig. Laut Teilnehmern der Studie seien zum einen zu viele Menschen untergebracht oder die Unterkünfte wären alles andere als sicher. Die Befragten gaben zudem an, dass sie woanders bessere Schlafplätze finden würden, da Notunterkünfte oftmals dreckig seien.

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Zivilcourage zeigen, für Lisa A. und Tom B. selbstverständlich

Dass viele Menschen auf der Straße Schutz eher im Freien als in offiziellen Einrichtungen suchen, macht sie umso verletzlicher – gerade nachts, wenn kaum jemand hinschaut. Umso wichtiger sind jene, die nicht wegsehen. Für Lisa A. und Tom B. ist Zivilcourage zu zeigen selbstverständlich. Sie sind mittlerweile ein eingespieltes Team und schreiten ein, wenn es nötig ist. Gefährlich werden kann es immer, dass wissen sie, aber: „Selbst kleine Gesten helfen: Wenn man an der gleichen Haltestelle aussteigt und fragt: „Hey, alles okay bei dir?“ – das kann schon einen Unterschied machen“, findet Lisa A.. Leider sei nicht mal das für viele selbstredend.

Ob auf den gefassten Tatverdächtigen am Ende eine Strafe zukommt und der Komplize noch ergriffen wird, liegt nun in den Händen der Justiz und der Polizei. Wie es in diesem Fall weitergeht, bleibt abzuwarten.