Berlin – Nach rund anderthalbwöchigen Beratungen haben Union und SPD einige Vorschläge zu künftigen Reformen im Gesundheitswesen vorgelegt. Die 16-köpfige Arbeitsgruppe (AG) Gesundheit und Pflege der laufenden Koalitionsverhandlungen hatte bis vorgestern ein elfseitiges Ergebnispapier erarbeitet. Es liegt dem Deutschen Ärzteblatt vor. Die Arbeitsgruppe selbst spricht von tiefgreifenden strukturellen Reformen, die man wage.
Über strittige Punkte soll noch auf Chefetage in der übergeordneten Hauptverhandlungsgruppe beraten werden, bevor es zu einem späteren Zeitpunkt zu einem Koalitionsvertrag kommen könnte.
Schwerpunkte will die mögliche schwarz-rote Regierung dem Papier zufolge auf eine Stabilisierung der Versicherungsbeiträge, einen schnelleren Zugang zu Terminen und bessere Arbeitsbedingungen für Beschäftigte im Gesundheitswesen sowie ein krisenresilientes Gesundheitswesen legen.
Ein großer Fokus liegt außerdem auf der ambulanten Versorgung, insbesondere könnte die Entbudgetierung für Fachärzte kommen und ein Primärzarztsystem soll eingeführt werden.
Wichtige Vorhaben auf einen Blick
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Die Entbudgetierung der Fachärzte in unterversorgten Regionen wird geplant.
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Die Reform der Notfall- und Rettungsdienstreform soll in den ersten 100 Tagen als Gesetz kommen.
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Die Finanzierung des Gesundheitssystems soll durch Steuermittel für Beiträge von Beziehern von Bürgergeld gesichert werden. Es ist eine Dynamisierung des Bundeszuschusses zum Gesundheitsfonds geplant. Der Anteil des Bundes für den Transformationsfonds für die Krankenhausreform soll aus dem Sondervermögen Infrastruktur finanziert werden.
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Die Krankenhausreform soll fortgesetzt werden, aber mit längeren Fristen.
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In der Pflegepolitik soll in den ersten 100 Tagen die bereits bekannten Gesetze zur Pflegekompetenz und der Pflegeassistenz fortgeführt werden, eine „große Pflegereform“ soll zügig kommen.
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Der Pakt für das Öffentliche Gesundheitswesen soll über 2026 hinaus fortgeführt werden.
Für den stationären Bereich erklären Union und SPD in dem Papier, sie wollen eine „qualitative, bedarfsgerechte und praxistaugliche Krankenhauslandschaft“ aufbauen. Diese soll auf der Krankenhausreform der vergangenen Legislaturperiode basieren. Über zentrale geplante Änderungen, wie eine längere Übergangszeit oder die Finanzierungsänderung des Transformationsfonds hatte das Deutsche Ärzteblatt bereits gestern berichtet. Die Vorhaltevergütung soll etwa in zwei Schritten ab 2028 eingeführt werden.
Vorgesehen sind allerdings künftig mehr Ausnahmen im ländlichen Raum für Krankenhäuser von den Vorgaben der Klinikreform. Dies hatte die Union in der Debatte rund um die Krankenhausreform in den vergangenen Jahren immer wieder gefordert.
Änderungen sind zudem in der konkreten Anrechenbarkeit von Ärztinnen und Ärzten in den Vorgaben der Leistungsgruppen vorgesehen. Im Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) war bei der Anrechenbarkeit eine Vollzeitstelle im Sinne von 40 Wochenstunden definiert, das will die schwarz-rote Koalition auf 38,5 Wochenstunden abändern.
Zusätzliche Milliarden für Kliniken vorgesehen
Zudem sieht das Ergebnispapier die Schließung der Betriebskostenlücke von bedarfsnotwendigen Krankenhäusern aus den Jahren 2022 und 2023 mit einmalig vier Milliarden Euro an Steuermitteln vor. Welche Krankenhäuser das Geld bekommen sollen, steht allerdings noch nicht fest. Eine Definition, welches Haus als bedarfsnotwendig gilt, müsse noch erarbeitet werden, hieß es gestern aus Verhandlungskreisen.
Neben einer Reform der Notfallversorgung und Rettungsdienste sind gesetzliche Rahmenbedingungen für den Gesundheitssektor und den Rettungsdienst vorgesehen, um im Zivilschutz- sowie Verteidigungs- und Bündnisfall abgestimmter und koordinierter reagieren zu können.
Eindeutige Zuständigkeiten sollen eingeführt werden. „Hierfür und für Investitionen in die energetische Sanierung und Digitalisierung für die Krankenhaus-, Hochschulklinik- und Pflegeinfrastruktur nutzen wir das Sondervermögen und die Ausnahme von der Schuldenbremse.“
Vorgesehen sind für dieses Vorhaben ab 2026 jährlich 1,2 Milliarden Euro, die aus dem Sondervermögen Infrastruktur entnommen werden sollen. Weiter sind ab 2026 zudem jährlich 500 Millionen Euro aus dem Sondervermögen oder aus dem Verteidigungshaushalt vorgesehen, um für Uniklinika, Bundeswehrkrankenhäuser und Dekontaminierungscontainer Resilienzmaßnahmen zu ermöglichen.
Über den Topf des Sondervermögens soll auch der Transformationsfonds, der die Kliniken im Sinne der Krankenhausreform unterstützen soll, teilfinanziert werden. Vorgesehen sind dafür 2,5 Milliarden Euro jährlich.
Insgesamt sollen die Kliniken für die Umsetzung der Krankenhausreform, energetische Sanierungen und Digitalisierungen sowie Resilienzmaßnahmen jährlich ab 2026 rund 4,2 Milliarden Euro aus dem neu beschlossenen Sondervermögen erhalten.
Finanzielle Entlastung der GKV
Weiter wollen die Koalitionäre die Beitragssätze der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) stabilisieren. „Die bisher nicht kostendeckenden Beiträge für Bürgergeldempfänger werden wir aus Steuermitteln vollständig finanzieren“, heißt es. Dies soll bereits im Jahr 2025 umgesetzt werden. Das würde die GKV um jährlich zehn Milliarden Euro entlasten.
Weiter soll der Bundeszuschuss künftig entsprechend der Entwicklung der beitragspflichtigen Einnahmen dynamisiert werden. Dies würde dem Papier zufolge 720 Millionen Euro im Jahr 2026 kosten, 2027 werden dafür voraussichtlich 1,5 Milliarden Euro und 2028 etwa 2,25 Milliarden Euro eingeplant.
Auch bei der Pflegeversicherung soll der Bund versicherungsfremde Leistungen wie die Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige und die Ausbildungsumlage übernehmen. Dies hatte bereits die Ampelkoalition in ihrem Koalitionsvertrag 2021 versprochen. Dieses Vorhaben würde ab 2026 jährlich etwa vier Milliarden Euro kosten.
Steuermittel auch zur Stützung der Pflegeversicherung geplant
Kurzfristig sollen zudem während der Coronapandemie entnommene Gelder aus dem Ausgleichsfonds zurückerstattet werden. „Der Sonderweg bei der Finanzierung der Pflegeversicherung in Sachsen, der einen höheren Pflegeversicherungsbeitrag bedeutet, wird durch eine Anpassung beendet“, heißt es weiter. Dies werde mit einmalig 5,22 Milliarden Euro an benötigten Steuermitteln beziffert.
Aus Verhandlungskreisen erfuhr das Deutsche Ärzteblatt gestern allerdings, dass die finanziellen Mittel zur Stabilisierung der Pflegeversicherung möglicherweise in Konkurrenz mit geplanten finanziellen Hilfen für bedarfsnotwendige Krankenhäuser stehen würden. Eine Entscheidung über die Verwendung der Mittel stehe noch aus, hieß es.
Nach den Berechnungen der AG würde die Entlastung von GKV und Pflegeversicherung in diesem Jahr bereits 12,6 Milliarden Euro an Steuermitteln kosten, 2026 17,32 Milliarden Euro, 2027 15,9 Milliarden Euro und im Jahr 2028 16,58 Milliarden Euro.
Elektronische Patientenakte soll mit Sanktionen starten
Die mögliche schwarz-rote Regierung will künftig darüber hinaus für die Zukunft der Gesundheitsversorgung „die Chancen der Digitalisierung“ nutzen. Zentral ist dabei die elektronische Patientenakte (ePA), die derzeit in den drei Modellregionen Hamburg, Franken und Nordrhein-Westfalen getestet wird.
„Noch 2025 rollen wir die elektronische Patientenakte stufenweise aus, hin von einer bundesweiten Testphase zu einer verpflichtenden sanktionsbewehrten Nutzung“, heißt es in dem Ergebnispapier. Zudem solle der Austausch zwischen den Versicherungsträgern und Ärztinnen und Ärzten vereinfacht werden.
Geplant sind zudem Verbesserungen von Rahmenbedingungen und Honoraren für Videosprechstunden, Telemonitoring und Telepharmazie. Ziel sei, die Versorgung flächendeckend sicherzustellen. Dafür soll auch die Gematik zu einer modernen Agentur weiterentwickelt werden, die im Bereich der Digitalisierung Akteure besser vernetzen soll.
Und: „Alle Anbieter von Software- und IT-Lösungen im Bereich Gesundheit und Pflege müssen bis 2027 einen verlustfreien, unkomplizierten, digitalen Datenaustausch auf Basis einheitlich definierter Standards sicherstellen.“
Dokumentationspflichten verringern
Mit einem Bürokratieentlastungsgesetz im Gesundheitswesen will die AG die Dokumentationspflichten und Kontrolldichten innerhalb der ersten sechs Monate „massiv“ verringern, wie sie schreibt. Man wolle eine Vertrauenskultur etablieren sowie Eigenständigkeit und -verantwortlichkeit der Professionen stärken. „Wir überprüfen Datenschutzvorschriften und alle Berichts- und Dokumentationspflichten, insbesondere im SGB XI auf ihre zwingende Notwendigkeit“, heißt es beispielsweise.
Neue Technologien sollen nach Vorstellung der Gruppe helfen: Konkret ist die Rede von KI-unterstützter Behandlungs- und Pflegedokumentation, die man ermöglichen wolle. Man strebe ein konsequent vereinfachtes und digitales Berichtswesen an.
Unter anderem will die AG die Verschreibung und Abrechnung von Heil- und Hilfsmitteln gegenüber den Krankenkassen wesentlich vereinfachen. Die Prüfquote bei Krankenhäusern soll erheblich sinken.
Pakt für ÖGD soll fortgeführt werden
Seit Monaten fordern Fachleute aus dem Public-Health-Bereich eine Verstetigung des in der Coronapandemie geschlossenen Paktes für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) über das Jahr 2026 hinaus: Während die Ampelkoalition bei dem Thema zuletzt immer wieder auf die schwierige Haushaltslage verwiesen hatte, kündigt die AG nun eine Fortsetzung des Paktes an, und zwar „in gemeinsamer Kraftanstrengung mit Bund, Ländern und Kommunen“.
In der Planung sind für die Weiterführung für 2027 und 2028 jeweils 750 Millionen Euro pro Jahr an Mehrkosten aus Steuergeldern festgehalten. In welchem Umfang genau die Länder noch Mittel beisteuern sollen, wird im Papier nicht ausgeführt. Für den Zeitraum vom 1. Januar 2021 bis 31. Dezember 2026 hatte der Bund für die Umsetzung des Paktes insgesamt vier Milliarden Euro bereitgestellt.
Fokus auf Prävention
Zu Präventionszwecken sollen nach den Wünschen der AG die bestehenden U-Untersuchungen erweitert und das Einladewesen für alle weiterentwickelt werden. Geplant sei eine zielgruppenspezifische, strukturierte und niedrigschwellige Ansprache der Menschen, insbesondere von Kindern.
Präventionsmaßnahmen sollen dem Ergebnispapier zufolge insbesondere Kinder und Jugendliche auch vor „Alltagssüchten“ schützen. „Eine Regelung zur Abgabe von Lachgas und GHB/GBL (KO-Tropfen) legen wir in den ersten 100 Tagen vor“, stellt die AG in Aussicht. Auch Energydrinks könnten auf den Prüfstand gestellt werden.
In der Psychotherapie sollen Prävention sowie Versorgung in der Fläche und Akutsituationen nach Vorstellung der Gruppe durch niedrigschwellige Online-Beratung und digitale Gesundheitsanwendungen gestärkt werden. „Wir passen Vergütungsstrukturen an, um eine bedarfsgerechte Versorgung mit Blick z. B. auf die Kurzzeittherapie zu ermöglichen.“
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Zudem soll es eine Notversorgung durch Psychotherapeuten geben und das Suizidpräventionsgesetz soll umgesetzt werden. Die Weiterbildungsfinanzierung will die AG nach eigenen Worten sicherstellen. Zudem soll die Bedarfsplanung im Hinblick auf Kinder und Jugendliche und auf die Verbesserung der Versorgung im ländlichen Raum angepasst werden.
Große Pflegereform geplant
Mit Blick auf die Herausforderungen in der Pflege spricht die AG von einer „Generationenaufgabe“. Sie kündigt an, zügig eine große Pflegereform erarbeiten zu wollen, die das System einfacher, flexibler und bezahlbarer machen soll. „Wir bringen binnen 100 Tagen auf Grundlage der bestehenden Entwürfe zur Pflegekompetenz, Pflegeassistenz und zur Einführung der ,Advanced Practice Nurse‘ Gesetze auf den Weg und sichern den sogenannten ‚kleinen Versorgungsvertrag‘ rechtlich ab.“
Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf Ministerebene soll zudem innerhalb von sechs Monaten Vorschläge für eine Strukturreform erarbeiten und diese noch in diesem Jahr vorstellen. Dabei sollen die kommunalen Spitzenverbände beteiligt werden.
Im Zuge der geplanten Entlastungen bei der Bürokratie sollen Aufgaben der Kontrollinstanzen in der Pflege –Medizinischer Dienst und Heimaufsicht – verschränkt und Doppelstrukturen abgebaut werden.
Gesundheitsforschung fördern
Zur Gesundheitsforschung hält die AG fest, dass Deutschland zu einem Spitzenstandort werden solle, auch für klinische Studien. „In der klinischen Forschung bauen wir Hürden ab und harmonisieren Regelungen mit anderen EU-Staaten“, heißt es etwa.
Als Beispiel wird die CAR-T-Zelltherapie genannt. Zudem sollen die Rahmenbedingungen für S1-Labore vereinfacht werden. Zur besseren Datennutzung wird ein Registergesetz geplant, die Datennutzung beim Forschungsdatenzentrum Gesundheit soll verbessert werden.
Betont wird im Ergebnispapier, dass medizinische Vorsorge, Behandlung und Forschung geschlechts- und diversitätssensibel ausgestaltet würden.
Für eine bessere Versorgung von Betroffenen seltener Erkrankungen will sich die AG ebenfalls stark machen. Hervorgehoben werden jene Menschen, die an ME/CFS, Long und Post COVID sowie PostVac erkrankt sind. Sie benötigten weiter Unterstützung. „Wir stärken hierzu Versorgung und Forschung.“
„Wir unterstützen Forschung und Versorgung zur Naturheilkunde und Integrativer Medizin zur Präventionsförderung“, ist dem Papier außerdem unter dem Stichpunkt Gesundheitsberufe zu entnehmen.
Mehr Geld für die WHO
Die Bedeutung der globalen Gesundheit hebt die AG hervor – in Zeiten, in denen die Vereinigten Staaten unter Präsident Donald Trump große Einschnitte in dem Bereich durchführen. Sie stärke Sicherheit Wohlstand und Resilienz, heißt es. „Deutschland bringt gezielt Gesundheitsexpertise in die globale Politik ein. Dazu gehören Reformen bei WHO und UNAIDS, verstärkte Sekundierungen und mehr deutsche Expertise in Schlüsselpositionen.“
Ohne dass es im Papier näher erläutert wird, ist in einer Tabelle der AG zu Aufwendungen eine Erhöhung des Beitrags an die WHO Deutschlands um 250 Millionen Euro pro Jahr gelistet. Nach seinem Amtsantritt hatte Trump den Austritt der Vereinigten Staaten – und damit des größten bisherigen WHO-Geldgebers – aus der Organisation angekündigt. Zur Unterstützung der WHO hatte sich Deutschland aber auch schon vorher bekannt, es gab auch Appelle an andere Mitgliedsländer zu einer Erhöhung der Mittel.
Gesundheitsberufe stärken
„Wir erhöhen die Wertschätzung und Attraktivität der Gesundheitsberufe“, schreibt die AG und verweist etwa auf „eine geeignete Personalbemessung im Krankenhaus und in der Pflege“. Was genau als geeignet angesehen wird, wird nicht ausgeführt. Es heißt aber, dass man den kompetenzorientierten Fachpersonaleinsatz und die eigenständige Heilkundeausübung ermögliche.
Zum PJ wird festgehalten, dass eine Vergütungsstruktur angestrebt werde, die mindestens dem BAföG-Satz entspreche. Zudem wolle man eine gerechte und einheitliche Fehlzeitenregelung schaffen.
In der Pflege soll die Eigenverantwortung gestärkt und deren Selbstverwaltung aufgewertet werden, etwa durch einen festen Sitz mit einem Stimmrecht im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA).
Noch keine Einigungen sind innerhalb der Arbeitsgruppe Gesundheit zur Frage der Aufarbeitung der Coronapandemie und der besonderen Berücksichtigung gesundheitlicher Belange der queeren Community erzielt worden.
Die Leitung der Arbeitsgruppe Gesundheit übernahmen der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) und die Fraktionsvorsitzende der SPD im Landtag in Sachsen-Anhalt, Katja Pähle.