Als sie die Mutter im Pflegeheim besucht, sitzen alle Bewohner im Gemeinschaftssaal vor dem Fernseher. Die Einzige, die den Kopf wendet, ist ihre Mutter. „Sie wartet die ganze Zeit auf mich“, heißt das für Annie Ernaux. Tonnenweise Schuldgefühle lasten auf ihr als Tochter. „Doch wenn sie weiter bei mir gewohnt hätte, wäre mein Leben vorbei gewesen. Sie oder ich.“

Ein Buch über sie, grauenhafte Vorstellung. Literatur kann gar nichts.

Annie Ernaux, Autorin

Im Sommer 1983 erleidet die Mutter einen Schwächeanfall. Ihr Kühlschrank ist bis auf eine Packung Würfelzucker leer. Jetzt erst wird klar, wie sehr die Alzheimer-Erkrankung fortgeschritten ist. Annie holt sie zu sich nach Cergy. Doch bald erkennt die Mutter ihre Tochter nicht mehr und muss ins Heim. In einem Brief, den sie nicht zu Ende bringt, schreibt sie: „Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus“. Es sind die letzten Worte, die sie zu Papier bringt. Sie liefern den Titel für das im Original 1997 und jetzt auf Deutsch erschienene Buch von Annie Ernaux über ihre Mutter.

„Ein Buch über sie, grauenhafte Vorstellung. Literatur kann gar nichts“, denkt Annie Ernaux, nachdem die Mutter verstorben ist und weiß nicht, was mit ihr gerade geschieht. Später überlegt sie es sich anders. „Den Schmerz vielleicht durchs Erzählen, Beschreiben aufbrauchen, ihn erschöpfen.“ Das ist es, was sie will. Schnell, impulsiv und ohne nachzudenken, fertigt sie dieses Tagebuch der Jahre 1983 bis 1986. Überall in der Welt hat sie nach der Liebe der Mutter gesucht. Jetzt dokumentiert sie schonungslos die Geschehnisse. „Was ich hier schreibe, ist keine Literatur.“

Der so unnachahmliche Sound der Nobelpreisträgerin

Ist es natürlich doch. Weil trotz des assoziativen Tagebuch-Charakters — der das Buch von anderen autofiktionalen Büchern Ernaux‘ wie „Die Frau“ (1988) unterscheidet, in dem sie auch über ihre Mutter geschrieben hat — immer wieder der so unnachahmliche Sound der Literaturnobelpreisträgerin durchtönt. Sie beschreibt die sich wiederholenden Besuche und findet für die Fassungslosigkeit eine literarische Form. Die Mutter erzählt, sie werde im Heim zur Arbeit gezwungen, bekomme weder Lohn noch was zu trinken. Ihre verkoteten Schlüpfer versteckt sie unterm Kopfkissen, so wie sie früher ihre blutigen Slips bis zum Waschtag auf dem Dachboden unter Schmutzwäsche vergraben hat.

Wenn sie das Heim verlassen hat, schuldig und zugleich erleichtert, dreht Annie das Autoradio an, und hört: „Erst wenn jemand tot ist, können wir sicher sein, nicht mehr von diesem Menschen abhängig zu sein.“ Mit dem Buch hat die 1940 geborene Annie Ernaux der Mutter ein Denkmal gesetzt und sich zugleich abgenabelt. Es ist das eindrucksvolle Zeugnis einer nicht immer leichten Mutter-Tochter-Beziehung.

Beeindruckende Erinnerung an die MutterTagebuchBeeindruckende Erinnerung an die Mutter

Annie Ernaux: Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus. Übersetzt von Sonja Finck. Suhrkamp, 106 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-518-22564-6