Brücken, Gebäude, Inseln oder Seen, nichts war vor Christo und Jeanne-Claude sicher. Wer einmal die Atmosphäre rund um ihre spektakulären, temporären Projekte erlebt hat, erinnert sich ein Leben lang daran. Ab Pfingstmontag steht der Reichstag in Berlin erneut im Mittelpunkt.
Ihre Verpackungen sind legendär. Wie überdimensionale Geschenke haben sie Gebäude, Brücken oder Bäume eingepackt. Sie haben Menschen kilometerlang über einen See schlendern lassen. Weltweit hat Christo gemeinsam mit seiner Frau Jeanne-Claude Menschen begeistert. Unvergessen jenes Sommermärchen, welches das Künstlerpaar 1995 mit dem verhüllten Reichstag Berlin beschert hat. Das Bauwerk, das die wechselvolle Geschichte Deutschlands widerspiegelt, zog silbrig glänzend und mit blauem Seil verschnürt fünf Millionen Menschen an. Jetzt wird der Reichstag zwölf Nächte lang dank ausgeklügelter Lichtillumination erneut zum skulpturalen Objekt. Pfingstmontag geht es los.
An den Strippen ziehen dieses Mal Roland Specker und Peter Schwenkow. Beide waren Mitte der Achtzigerjahre die Mitinitiatoren des Vereins „Berliner für den Reichstag“, jetzt wollen sie mit einem besonderen Projekt zur Zeitreise einladen. Ob er ein Nostalgiker oder einfach nur ein Christo-Enthusiast sei, fragt ntv.de Peter Schwenkow beim Gespräch in Berlin. „Eigentlich bin ich Berlin-Fan“, sagt er spontan. „Unterschiedlichste Konzerte und Veranstaltungen vor dem Reichstag verbinden mich beruflich und persönlich seit 1984 mit dem Gebäude. Als Roland Specker mich fragte, ob ich Lust hätte, dieses Christo-Projekt mit ihm zu machen, habe ich eine Nacht drüber geschlafen und dann zugesagt.“
Umsonst und draußen geht in Berlin immer – 1995 kamen fünf Millionen Menschen zu Christos und Jeanne-Claudes Meisterwerk.
(Foto: Associated Press)
Ich sehe was, was Du nicht siehst
Christo und Jeanne-Claude begrenzten ihre spektakulären Aktionen auf maximal 16 Tage. Diese vergänglichen Kunstwerke haben die beiden unsterblich gemacht. Christo selbst war überzeugt, dass man Werke, die man nur einmal im Leben sieht, besser im Gedächtnis behält. Die Philosophie dahinter: Indem das Duo ein vertrautes Gebäude wie den Reichstag den Blicken entzieht, wird es plötzlich sichtbar. Dem Publikum werden neue An- und Einsichten geschenkt. Das, was man nicht sieht, sieht man besser.
Am 13. Juni wären Christo und Jeanne-Claude 90 Jahre alt geworden, ein Grund mehr zu feiern. Specker und Schwenkow wollen keinen Abklatsch des ikonischen Christo-Reichstags schaffen. „Es soll eine Hommage und keine Kopie werden“, so Schwenkow. Sie seien froh, dass die Genehmigung reibungslos innerhalb von drei Monaten gegeben wurde. Anders als bei Christo und Jeanne-Claude. Seit 1971 folgten sie dem Traum des verpackten Reichstags. An diesem Ort prallten für das Paar zwei Welten aufeinander. Berlin war für den in Bulgarien geborenen und aufgewachsenen Christo ein Beispiel der Trennung zwischen Ost und West. Es war der Mikrokosmos, der politische und soziale Unterschiede spiegelte.
Pressekonferenz mit Peter Schwenkow, Roland Specker und Vladimir Yavachev, Christos Neffen und Direktor der Projekte.
(Foto: IMAGO/Eventpress)
Unermüdlich hartnäckig (oder Let’s go)
X-Mal stellten sie ihr Projekt vor, erlitten viele Rückschläge. Es war ein langer Weg durch die deutsche Bürokratie. In der Politik schlugen die Wellen hoch. Der Reichstag sollte vor dem Umzug der Bundesregierung nach Berlin als künftiges Parlamentsgebäude renoviert werden und zudem eine gläserne Kuppel bekommen. Christo ergriff die Chance dieser diffusen Zwischenzeit, brachte seine Kunst der Verwandlung erneut ins Spiel. Am 25. Februar 1994 debattierte der Deutsche Bundestag, damals noch in Bonn, 70 Minuten lang über Pro und Contra. Mit 292 Stimmen für das Projekt konnten Christo und Jeanne-Claude ihre Vision endlich realisieren.
„Ich bin ein positiver Mensch, ich glaube daran, dass man umsetzen kann, was man sich vornimmt“, erinnert sich Schwenkow. Voller Neugier und Enthusiasmus wartete er nach der positiven Bundestagsabstimmung auf den „Wrapped Reichstag“. Der wurde sechs Jahre nach dem Mauerfall zum Symbol für den Neubeginn Deutschlands und nicht für eine geteilte Stadt. Der Kulturmanager schwärmt, wie friedlich und ruhig die vielen hunderttausend Menschen an dem Kunstwerk zusammenkamen. Jetzt wünscht er sich Ähnliches für die Jubiläums-Inszenierung. Die Lichtshow ist kostenlos, so wie alle Christo-Verpackungen, die im öffentlichen Raum die Besuchenden begeisterten.
Die größte Hürde sei dieses Mal die Frage gewesen, ob mit ausgeklügelter Technik die Plastizität und der Eindruck von 1995 abgebildet werden könne, erzählt Peter Schwenkow. Und weiter: „Die Monumentalität und der sich bewegende Stoff werden durch 24 Hochleistungsprojektoren von drei verschiedenen Plattformen aus auf das Gebäude vergrößert wiedergegeben.“ Nach einem Testlauf gibt Schwenkow sich optimistisch. Allerdings müsse jeder selbst für sich entscheiden, ob die Lichtprojektion geglückt sei. Die 20-minütige Filmschleife basiert auf Bildern der ursprünglichen Verhüllung. Sie soll wie Kunst aussehen und nicht wie eine Diashow.
Lebendiger Koloss
Das Künstlerpaar, das sich mit den Vornamen ansprechen ließ, definierte seine Arbeit als Gemeinschaftswerk. Im Herbst 1958 trafen sie in Paris aufeinander, wohin Christo über Umwege gekommen war. Er verdiente damals sein Geld als Porträtmaler. Jeanne-Claude, die ebenfalls in der Stadt lebte und als Flugbegleiterin arbeitete, lernte er bei einem Auftrag kennen. Die beiden wurden ein Paar. Im selben Jahr begann er Farbdosen, Zeitungsstapel sowie Fahrräder mit Plastikfolie oder Stoff einzupacken, zu verschnüren und zur Skulptur zu erheben. 1961 kam den beiden erstmals der Gedanke, öffentliche Gebäude in etwas Rätselhaftes zu transformieren.
Stoff, seine Struktur, die unterschiedliche Qualität und der Faltenwurf haben Künstlerinnen und Künstler seit der Antike fasziniert. Gemalt taucht das Material ebenso auf wie in der Bildhauerei. Die Verhüllung des Reichstags folgt dieser klassischen Tradition. 109.400 Quadratmeter graues Polypropylen-Gewebe wurde mit Aluminium beschichtet. Eine raffinierte Idee, denn je nach Tageszeit schimmerte es blass Silber oder düster Grau. Der Wind und das ständig wechselnde Licht auf den Falten des Tuchs machten den steinernen Koloss lebendig.
Und tschüss
Nach zwei Wochen verschwand das alles. Das Material wurde wiederverwertet. Die Kosten ihrer Projekte trugen Christo und Jeanne-Claude übrigens immer selbst aus Verkäufen von Collagen, Zeichnungen oder Modellen. Sie lehnten jede Art von Sponsoring ab, so bewahrten sie ihre künstlerische Freiheit. Auch Peter Schwenkow und Roland Specker finanzieren heute den Großteil des erleuchteten Reichstags selbst – ganz ohne den Einsatz von Steuergeldern. Warum machen sie das? „Wir beide haben von Berlin aus Karriere gemacht, jetzt im höheren Alter können wir auch mal was zurückgeben“, ist Schwenkow überzeugt.
Das Werk „Verpackter 1961 Volkswagen Käfer Saloon“ ist ab dem 11. Juni in der Berliner Neuen Nationalgalerie ausgestellt.
(Foto: Wolfgang Volz / Christo and Jeanne-Claude Foundation)
Sie haben jetzt Lust auf mehr Kunst von Christo und Jeanne-Claude bekommen? Im schwäbischen Künzelsau zeigt Unternehmer und Mäzen Reinhold Würth Werke aus seinem Christo-Konvolut. Er war mit dem Künstlerpaar eng befreundet und hat mit 130 Arbeiten eine der größten Sammlungen ihrer Werke. Und die Berliner Neue Nationalgalerie zeigt den verpackten VW-Käfer. Wo auch immer Sie sich für Christo hinbegeben – es ist herrlich, im Chaos dieser immer lauter werdenden Weltgeräusche sich von einfacher Schönheit und Freude treiben zu lassen.
30 Jahre „Verhüllter Reichstag“, Illumination auf der Westfassade des Reichstags, 9. bis 20. Juni, circa 21.30 Uhr bis 1 Uhr
„Verhüllt, verschnürt, gestapelt, Christo und Jeanne-Claude“, bis zum 25. Januar, Museum Reinhold-Würth-Straße 15, 74653 Künzelsau-Gaisbach – der Eintritt ist frei