Kurz vor dem Ende des Spiels der Füchse Berlin gegen die Rhein-Neckar Löwen wurde es unheimlich. War dieser Berliner Spieler mit der Nummer 19 vielleicht doch kein Mensch? Mathias Gidsel hatte eine kleine Wunde am linken Knie, normalerweise müssen derlei Verletzungen umgehend behandelt werden, damit kein anderer Spieler mit dem Blut des Blessierten in Berührung kommt. Doch bevor der Däne das Feld verlassen musste, konnte er den Schiedsrichtern glaubhaft versichern, dass gar kein Blut floss.

Kann Gidsel nicht bluten, weil irgendein Hochleistungskraftstoff durch seine Adern fließt? Die Leistungen des 26-Jährigen werden regelmäßig mit Attributen wie „überirdisch“ oder „roboterhaft“ geadelt, der Linkshänder scheint die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit immer weiter nach oben zu verschieben und sammelt einen Rekord nach dem anderen. Er hat die Dänen mit der olympischen Bestmarke von 62 Toren zur Goldmedaille geführt, wie auch zum Weltmeistertitel im Februar, er sticht sogar aus diesem Weltklasse-Ensemble regelmäßig heraus.

Zur Beruhigung aller Verschwörungstheoretiker: Mathias Gidsel ist weder ein Außerirdischer noch eine Maschine, er ist einfach nur der beste Handballer des Erdballs. „Er ist alles für uns. Mathias treibt alle an, er macht alle besser. Er ist nicht nur der beste Spieler der Welt, ich glaube sogar, es hat nie einen besseren gegeben“, erklärte Berlins Geschäftsführer Bob Hanning.

Am Sonntagabend verdiente sich der Welthandballer den nächsten Eintrag in die Handball-Geschichtsbücher, indem er die Füchse Berlin mit zehn Treffern zu einem 38:33-Sieg gegen die Mannheimer führte und damit zu ihrem ersten deutschen Meistertitel.

Einfach nicht zu stoppen: Mathias Gidsel setzt sich gegen Steven Plucnar Jacobsen und Olle Forsell Schefvert (v.l.) durch, der dänische Olympiasieger war einmal mehr bester Akteur auf dem Parkett.Einfach nicht zu stoppen: Mathias Gidsel setzt sich gegen Steven Plucnar Jacobsen und Olle Forsell Schefvert (v.l.) durch, der dänische Olympiasieger war einmal mehr bester Akteur auf dem Parkett. (Foto: Oliver Zimmermann/Foto2press/Imago)

Es war das würdige Finale einer packenden Saison, die zwischenzeitlich ein Sechskampf um den Titel in der weltbesten Liga gewesen war. Dann verabschiedeten sich Flensburg, Kiel und Hannover aus dem Titelrennen, ehe auch Melsungen nach einer Niederlage in Berlin entscheidend zurückfiel. So kam es zum Showdown im Fernduell der Füchse mit Magdeburg, das zwar sicher in Bietigheim gewann, aber mit einem Punkt Rückstand ins Ziel kam. Für Berlin war es die Krönung einer nahezu perfekten Saison – und die Vollendung einer langen Reise, wie sich Hanning erinnerte.

Mit dem Meistertitel ist es ihm gelungen, nach dem Sieg im Pokal, der European League und der Vereins-Weltmeisterschaft seinem Werk die Krone aufzusetzen. Vor zwei Jahrzehnten entwickelte er die Idee, in der stärksten Liga der Welt mit vorwiegend eigenen Talenten zu bestehen. Vor sechs Jahren installierte er in Jaron Siewert den jüngsten Bundesliga-Trainer aller Zeiten, der mittlerweile 31-Jährige wurde gerade zum Trainer der Saison gewählt. Dieses eingeschworene Team verstärkte Hanning sukzessive mit Topspielern wie dem Dänen Lasse Andersson oder dem Schweden Max Darj. Der entscheidende Schritt gelang mit der Verpflichtung des Welthandballers Gidsel, der seinen Vertrag trotz zahlreicher Offerten im Februar bis 2029 verlängerte.

Der nächste Höhepunkt wartet schon: Am Wochenende spielt Berlin in Köln im Final Four der Champions League

Am Saisonfinale in der mit 13 200 Zuschauern ausverkauften Mannheimer Arena hatte Hanning allerdings keine Freude, wie er hernach zugab. Die Löwen verlangten dem neuen Meister alles ab, dominierten das Spiel in der ersten Halbzeit (20:17) und lagen bis zur 40. Minute in Führung. Mit einem einfachen Rezept: Sie kopierten das Spiel der Gäste, mit dem diese in den vergangenen 19 Spielen ungeschlagen blieben, lediglich zweimal hatten die Füchse auf fremden Terrain einen Zähler abgeben müssen.

So wie normalerweise die Berliner aus einer starken Abwehr heraus die Gegner mit ihrem Tempospiel überrollen, setzten nun die Löwen den Gästen zu. Zupass kam dieser Strategie, dass die Füchse-Abwehr überraschend schwach agierte und Torhüter Dejan Milosavljev kaum einen Ball zu fassen bekam. Folglich hatten die Gäste gar keine Gelegenheit, ihre schnellen Konter zur Aufführung zu bringen; auch, weil die Löwen 40 Minuten lang in der Offensive nahezu fehlerlos agierten. Orchestriert von einem famosen Juri Knorr, der sich würdig in Richtung des dänischen Spitzenteams Aalborg verabschiedete und seine Leistung mit elf Treffern krönte. Diese Phase mitansehen zu müssen, verglich Hanning mit einer Wurzelbehandlung beim Zahnarzt – ohne Narkose.

Dass die Füchse die Ruhe bewahrten, lag schlicht an ihrer individuellen Klasse. Nationalspieler Nils Lichtlein und Andersson sind stets zu erfolgreichen Durchbrüchen in der Lage – und wenn nichts mehr geht im Angriff, dann geht der Ball eben zu Gidsel. Der 1,90 Meter große Linkshänder ist die personifizierte Torgefahr: Blitzschnelle Antritte und Finten, ein unbändiger Zug zum Tor und ein nahezu unerschöpfliches Wurfrepertoire zeichnen ihn aus, Gidsel ist im Eins-gegen-eins-Spiel nie zu halten und trifft aus allen Lagen.  „Wir haben uns in der Pause gesagt, wir sind die beste Mannschaft der Welt, also spielen wir auch so“, erklärte der Däne die Wende.

Nach dem Triumph gönnten sich die Berliner einen Charterflug zur Feier ins Berliner Strandbad Badeschiff mit 2000 Fans

Demnach war es bloß eine Frage der Zeit, wann die Füchse ins Spiel kommen würden. Spätestens als sich Milosavljev im Tor steigerte, nahm der Berliner Triumphzug seinen Lauf. Bester Werfer war Neu-Nationalspieler Tim Freihöfer, auch einer aus dem Nachwuchspool der Berliner, mit elf Toren. Der 22-Jährige profitierte als äußerst sicherer Siebenmeterschütze ebenfalls von Gidsels rasantem Spiel, das meist nur regelwidrig zu unterbinden ist.

Nach der Ehrung in Mannheim bestiegen die Füchse, ebenfalls ein Novum, einen Charterflieger, um möglichst schnell zu den Feierlichkeiten im Berliner Strandbad Badeschiff mit 2000 Fans zu kommen. Allzu viel Sause lässt Trainer Siewert nicht zu, schon am kommenden Wochenende steht der ultimative Saisonhöhepunkt auf dem Programm: Die Füchse spielen im Halbfinale der Champions League beim Final Four in Köln gegen Nantes, das zweite Halbfinale bestreiten Magdeburg und Barcelona. Dann könnten sich die beiden deutschen Klubs wiedetreffen, im Finale.

Mathias Gidsel wollte daran noch keinen Gedanken verschwenden, Bob Hanning schon: Er befürchtet eine weitere Wurzelbehandlung.