Nach dem Mauerfall bis in die frühen 2000er Jahre war der Berliner Bezirk Lichtenberg ein Hotspot der Neonazi-Szene: Rechte Gruppen griffen Unterkünfte für Geflüchtete an, patrouillierten durch Kieze, es wurden Morde verübt. Rechtsextreme Gewalt gehört zur Geschichte des Bezirks – und ist spätestens heute wieder Teil seiner Gegenwart.
Nach einer Reihe von rechtsextremen Attacken und Drohgebärden im Bezirk wollen Politiker in Lichtenberg einen Runden Tisch initiieren. Linke, SPD und Grüne haben einen gemeinsamen Antrag an das Bezirksamt vorbereitet. „Der jüngste Übergriff auf das Offene Antifa-Treffen Hohenschönhausen sowie der mutmaßlich rechtsextreme Angriff auf einen Bürgerdeputierten zeigen einmal mehr die anhaltende Bedrohung durch neonazistische Gewalt im Bezirk“, heißt es weiter.
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Die wiederholten Angriffe auf den Linken-Politiker Lasko Schleunung, Linksjugend-Sprecher und Bürgerdeputierter im Bezirk, sorgten zuletzt für Aufsehen: Zunächst erhielt der 18-Jährige Drohbriefe, später soll es zu mehreren körperlichen Übergriffen gekommen sein. Polizei und Staatsschutz wurden bereits nach den ersten Drohungen eingeschaltet. Ende Mai wurde Schleunung im Ortsteil Friedrichsfelde niedergeschlagen und musste im Krankenhaus behandelt werden. Kurz darauf meldete die Polizei einen weiteren versuchten Angriff auf ihn.
Ein Tatverdächtiger ist noch nicht ermittelt, doch das Drohschreiben, was den Attacken vorausging, spricht eine deutliche Sprache: „Lasko töten“ und „Linke Zecken erst bespucken und dann schlagen“ stand auf dem Schreiben. „Zecken“ werden von Neonazis Linke genannt.
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Linke im Fokus von Neonazis
Die Vorfälle häufen sich: Vor zwei Wochen sollen junge Neonazis versucht haben, ein antifaschistisches Treffen im linken Hausprojekt WB13 in Wartenberg zu stören – das berichten mehrere Augenzeugen. Nachbarn verständigten wegen vermummter Personen die Polizei. Im März schilderte ein Schüler aus dem gleichen Ortsteil, dass er mutmaßlich von jugendlichen Neonazis durch das Wohnviertel gejagt wurde.
Im vergangenen Jahr verprügelte Julian M., Kopf der Neonazi-Gruppe „Deutsche Jugend voran“, einen Mann in der S-Bahn zwischen Friedrichsfelde und Lichtenberg. Für diesen und weitere Vorfälle wurde er später zu über drei Jahren Haft verurteilt. Anlass für den Angriff: Das Opfer war als politisch links zu erkennen.
„Das Meldeaufkommen ist auch jetzt enorm hoch“, sagt ein Mitarbeiter des Lichtenberger Registers auf Anfrage des Tagesspiegels. Auffällig sei vor allem die starke Zunahme von Schmierereien mit der Zahlenkombination „1161“ – insbesondere rund um den Park Herzberge. Die Ziffern stehen für „Anti-Antifaschistische Aktion“ – ein Code, der ausdrücken soll, dass politische Gegner notfalls auch mit Gewalt bekämpft werden.
„Die Antifa“, für junge Neonazis gleichbedeutend mit politisch links eingestellten Menschen, ist ein zentrales Feindbild der nachwachsenden rechtsextremen Szene. Mehrere Demos der Jung-Nazis richteten sich vermeintlich gegen „Linksextremismus“. Junge Parteimitglieder der Linken in Lichtenberg seien deshalb in Sorge, berichtet der Bezirksverordnete Antonio Leonhardt. „Was Lasko passiert ist, sorgt für Unruhe bei uns“, sagt er.
Schwerpunkt im Norden von Lichtenberg
Schon 2024 verzeichneten die Lichtenberger Register einen deutlichen Anstieg rassistischer und rechtsextremer Vorfälle. „Kein anderes Vorfallsmotiv betraf so häufig auch Kinder und Jugendliche“, heißt es im Jahresbericht. Insgesamt wurden 723 Vorfälle dokumentiert, darunter 24 körperliche Angriffe. Rund ein Drittel der Vorfälle ereignete sich im nördlichen Bezirksteil – in Hohenschönhausen.
Auch in den letzten Wochen tauchen dort immer wieder rechtsextreme Sticker und Graffiti auf, wie man der Vorfalls-Chronik der Register entnehmen oder bei einem aufmerksamen Spaziergang durch den Kiez sehen kann, vor allem im Ortsteil Neu-Hohenschönhausen. Zuletzt wurden vor mehreren Wohnungstüren muslimischer Familien Handzettel mit einem rassistischen X-Post einer AfD-Bundestagsabgeordneten entdeckt.
Rechte Gewalt im Berliner Osten
Rechtsextreme treten nicht nur in Lichtenberg, sondern im gesamten Berliner Osten verstärkt auf. Die Berliner Register haben 2024 die meisten Vorfälle in Marzahn-Hellersdorf gezählt (1052). In diesem Bezirk lag ein Schwerpunkt der Vorfälle im Ortsteil Hellersdorf.
Berichte über Jugendliche aus den Plattenbausiedlungen, die in rechtsextreme Ideologie abrutschen, gibt es seit Jahren: 2022 tauchten eindeutig rechtsextreme Drohschreiben nach einer bislang ungeklärten Brandserie in Hohenschönhausen auf. Der Tagesspiegel berichtete zuerst über die Drohbriefe. Vor Gericht klärte sich: Verfasser war der bei Urteilsverkündung 20-jährige Leon S. aus Neu-Hohenschönhausen.
Zeugin im Prozess war auch eine Sozialpädagogin aus dem Kiez: Sie berichtete, dass es bereits Gespräche mit dem jungen Mann und seinen Freunden gegeben hatte, aufgrund von dessen Begeisterung für den Nationalsozialismus. Vor Gericht machte der junge Mann keinen Hehl aus seiner Gesinnung, er gestand auch einen Hitlergruß.
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Linke, SPD und Grüne in Lichtenberg wollen nun den Fokus auf den Ortsteil im Lichtenberger Norden liegen: Die Fraktionen fordern die Aufnahme eines „Runden Tisches Hohenschönhausen“. Dort sollen sich Vereine, Initiativen, Verwaltung und Politik „im gemeinsamen Engagement gegen rechte Strukturen vor Ort zu vernetzen und zu stärken“. „Ein bloßes symbolisches Verurteilen rechter Gewalt reicht nicht aus“, heißt es in dem Antrag.
Zudem soll ein Präventions-Konzept gegen Rechtsextremismus bei Jugendlichen erarbeitet werden. „Gerade angesichts der Tatsache, dass rechtsextreme Täter*innen zunehmend jünger werden, ist frühe demokratische Bildung unerlässlich“, schreiben die Fraktionen. Der gemeinsame Antrag soll auf der nächsten Bezirksverordnetenversammlung am 19. Juni eingereicht werden.