So viel Gisela Elsner gab es schon lange nicht mehr in Nürnberg, der Geburtsstadt der kompromisslosen Schriftstellerin. In der vergangenen Woche erhielt zuerst Ulrike Draesner vom Literaturhaus Nürnberg den seit 2021 alle zwei Jahre verliehenen und mit 1000 Euro dotierten Gisela-Elsner-Literaturpreis für ihr vielfältiges Werk. Einen Tag später widmete man dann der Autorin, die sich 1992 im Alter von 55 Jahren in München das Leben nahm, einen ganzen Lese- und Gesprächsabend. Am Freitag schließlich hatte die Adaption ihres Romans „Heilig Blut“ im Schauspielhaus Premiere, die letzte unter Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger, der sich im Sommer nach sieben erfolgreichen Jahren in Richtung Wien verabschiedet.
Die Bühnenfassung der ungarischen Regisseurin Ildikó Gaspar lässt schon deshalb aufhorchen, weil die böse Satire „Heilig Blut“, die Elsner als dezidiert „antifaschistisch“ verstanden wissen wollte, nahezu unbekannt ist. Sie hatte sie in den 1980er-Jahren geschrieben. Die Geschichte handelt von drei alten Männern – Hächler, Glaubrecht und Lüssl – die im Bayerischen Wald mit dem 40-jährigen Gösch, Sohn eines kranken Freundes, Winter- und Jagdurlaub machen, bis Wölfe aus einem Freigehege entlaufen, ein Knopffabrikant verschwindet und der dünne Firnis der Zivilisation abbröckelt.
Deutsche Verlage lehnten die Veröffentlichung ab, und so erschien der Roman 1987 auf Russisch. Eine deutsche Ausgabe gab es erst zwanzig Jahre später, der Berliner Verbrecher Verlag hatte sich des Werks angenommen. Mittlerweile ist auch diese Ausgabe längst vergriffen.
Ildikó Gaspar hat „Heilig Blut“ aus seinem Dornröschenschlaf geweckt und in eine Nummernrevue aus 20 Szenen verwandelt. Was insofern passt, als Elsner munter Bibelanleihen neben Krimielemente und Märchenmotive gesetzt hat. Die Regisseurin greift all dies auf, dreht den Genre-Mix aber noch weiter. Es erklingen Glockenspiel, Gong und Vibraphon, das Ensemble singt Passagen aus Bachs Matthäuspassion und forsch das Lied „Mut“ aus Schuberts Winterreise: „Lustig in die Welt hinein, gegen Wind und Wetter! Will kein Gott auf Erden sein, sind wir selber Götter!“
Überdies stecken die vielen Nebenfiguren – Wirte, Polizisten, Touristen – in bizarren Fantasietrachten, Chargen im wahrsten Sinne. Matthias Luckey, Adeline Schebesch und Thorsten Danner spielen in ihren mehreren Rollen schön böse oder schön blöd Schmierenkomödienstadl.
In mehreren Rollen unterwegs: Thorsten Danner, Elina Schkolnik und Adeline Schebesch (vorne von links) in „Heilig Blut“. (Foto: Konrad Fersterer)
Wirklich komisch ist hier gar nichts, dafür alles heiter brutal. Gisela Elsner führt in den drei alten Männern die bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft vor. In ihnen lebt die faschistische Ideologie ungebrochen fort. Sie sind emotional vereist, hart gegen sich selbst, vor allem aber hart gegen andere. Der ihnen anvertraute Gösch ist für sie als Wehrdienstverweigerer, Weichei und Vegetarier ein gefundenes Fressen.
Das eigentliche Problem sind also nicht die entflohenen Wölfe, sondern die Menschen, die ihren Mitmenschen ein Wolf sind. Ildikó Gaspar verstärkt diese Sichtweise, indem sie die Inszenierung in einer überzeitlichen Winterlandschaft spielen lässt. Die Bühne ist schräg gestellt, dazu rieselt leise der Schnee.
Hier stapfen die vier tollen Hauptdarsteller umher. Vorneweg die Alten in Soldatengrau und Jägergrün. Julia Bartolome als Hächler: die Haare streng gescheitelt, der Blick schneidig. Amadeus Köhli als Glaubrecht: schon ein bisschen kränklich, was ihn aber nur noch böser sein lässt. Stephan Schäfer als Lüssl: die Lache dreckig, das Gewehr stets im Anschlag. In ihrem Schlepptau Sascha Tuxhorn als Gösch. Mit Jutebeutel alles andere als schneidig, dafür voller Scham. Seinem Diktafon vertraut er den zentralen Satz an: „Der Kontrolle der bürgerlichen Gesellschaft entzogen, zeigen sie einen Hang zur Unmenschlichkeit, der sie gemeingefährlich macht.“
Gemeinsam schießt man auf Hasen, Fasane und Wölfe, und wenn man dabei einen Menschen trifft, na und, dann verscharrt man ihn halt, was soll das Theater? Ein alaskakalter Abend, bei dem einem das Lachen im Hals stecken bleibt. Obwohl ohne eine einzige Anspielung auf unsere Gegenwart muss man genau daran unablässig denken!