Niemand ist vor ihr sicher: Auch junge Erwachsene erkranken an Demenz – Thurgauer Expertin über die Tücken des frühen Vergessens
Fast 8000 Menschen unter 65 leiden schweizweit an Demenz. Für junge Betroffene sei die Krankheit doppelt belastend, sagt Heidi Schänzle-Geiger. Die Neuropsychologin warnt vor Übergewicht und Alkoholkonsum als Risikofaktoren.
Auch junge Erwachsene und selbst Jugendliche können an Demenz erkranken.
Symbolbild: Photographee.eu
«Viele fürchten sich vor einer Demenz – nicht nur vor der Krankheit, sondern auch davor, nicht mehr ernst genommen zu werden», sagt Heidi Schänzle-Geiger. Die Erkrankung tritt nicht nur im hohen Alter auf, auch jüngere Menschen unter 65 Jahren können an den typischen Erinnerungslücken leiden.
Da das Thema immer noch tabu ist, falle es Betroffenen und ihren Familien oft schwer, offen darüber zu sprechen oder frühzeitig Hilfe zu holen. Vertuschen bringe jedoch nichts. «Offenheit schafft Verständnis», sagt Schänzle-Geiger. Sie ist Neuropsychologin und Fachpsychologin für Psychotherapie am Kantonsspital Münsterlingen und hat viele Jahre bei Alzheimer Thurgau mitgearbeitet.
8000 Menschen unter 65 betroffen
Demenz werde inzwischen immer häufiger als neurokognitive Störung bezeichnet. «Ein Begriff, der Vorurteile abbauen soll», erklärt die Neuropsychologin. Unter Demenz fallen rund 200 Hirnerkrankungen, die häufigste ist Alzheimer mit etwa 70 Prozent der Fälle. Heilbar sei Demenz nicht, doch eine frühe Diagnose könne helfen, Symptome zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern.
Treten Demenz-Symptome vor dem 65. Lebensjahr auf, spricht man von Demenz im jüngeren Lebensalter. In der Schweiz sind – Stand 2024 – fast 8000 Menschen zwischen 30 und 64 Jahren betroffen. Weil Ärztinnen und Ärzte dann oft zuerst an Stress, Depression oder Burn-out denken, kommt es häufig zu Fehldiagnosen.
Es kann tatsächlich sein, dass ein harmloser Grund dahintersteckt, wie beispielsweise Blutarmut, ein Vitamin-B12-Mangel, Stress oder eine Depression. Wichtig sei, sagt Schänzle-Geiger, psychische Beeinträchtigungen immer ernst zu nehmen und ärztlich abklären zu lassen.
Heidi Schänzle-Geiger, Neuropsychologin am Kantonsspital Münsterlingen, kennt sich mit Demenz aus. Sie hat bei Alzheimer Thurgau mitgearbeitet.
Bild: Yvonne Aldrovandi-Schläpfer
Job, Familie – und dann die Demenz
Jüngere Demenz-Betroffene und ihre Angehörigen stehen oft vor anderen Herausforderungen als ältere. Sie sind meist berufstätig, tragen zum Lebensunterhalt bei und kümmern sich um die im gleichen Haushalt lebenden Kinder.
Diese Doppelbelastung stellt eine besondere Herausforderung dar. Die betroffenen Personen haben daher möglicherweise Schwierigkeiten, ihre Leistungsfähigkeit in der Arbeit und ihre familiären Aufgaben aufrechtzuerhalten.
Gehäuft handle es sich bei der Erkrankung im jüngeren Alter um die frontotemporale Demenz, bei der Nervenzellen vor allem im Stirn- und Schläfenbereich des Gehirns absterben. Von hier aus werden unter anderem Emotionen und Sozialverhalten gesteuert. In äusserst seltenen Fällen gibt es gemäss Schänzle-Geiger sogar neurokognitive Beeinträchtigungen bei Kindern und Jugendlichen.
Übergewicht, Rauchen und Alkohol erhöhen das Demenzrisiko
Die ersten Anzeichen bei jüngeren Menschen, die an Demenz erkrankt sind, könnten Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen oder Rückzug aus sozialen Aktivitäten sein. Wichtig sei der frühe Miteinbezug des Arbeitgebers, sagt Heidi Schänzle-Geiger, damit Rechtliches und Finanzielles geregelt werden können.
Denn Demenzbetroffene können Leistungen der Invalidenversicherung (IV) erhalten, wenn ihre Erkrankung zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit führt. Um sicherzustellen, dass der eigene Wille auch im Falle fehlender Urteilsfähigkeit gewahrt bleibt, sind ein Vorsorgeauftrag, eine Patientenverfügung sowie eine Bankvollmacht sinnvolle rechtliche Instrumente.
Wichtig sei, dass Angehörige sich regelmässig Pausen gönnen und auf sich achten. Psychologische Beratung, Selbsthilfegruppen und Pflegehilfe bieten gemäss Schänzle-Geiger wertvolle Unterstützung.
Demenz kann jeden treffen, doch die Ursachen sind noch nicht vollständig geklärt. Sicher ist: Alter, starkes Übergewicht, hohes Cholesterin, Diabetes, Rauchen oder übermässiger Alkoholkonsum erhöhen das Risiko.
Vererbung ist selten, aber möglich. «Man weiss, dass abnorme Eiweissablagerungen den Stoffwechsel der Nervenzellen im Gehirn stören, was zur Folge hat, dass fortschreitend Nervenzellen im Gehirn absterben», sagt Schänzle-Geiger. «Der genaue Mechanismus, warum diese Ablagerungen entstehen und letztlich das Absterben der Zellen verursachen, ist noch unklar.»
Die Expertin rät: Aktiv bleiben gegen das Vergessen
Vergesslichkeit sollte ärztlich abgeklärt werden, wenn sie länger als sechs Monate anhält oder anderen auffällt. «Ergibt ein Test Hinweise auf Demenz, überweist der Hausarzt den Patienten für eine genaue Abklärung meist zu einem Spezialisten», sagt Heidi Schänzle-Geiger.
Doch nicht jede Vergesslichkeit ist mit einer beginnenden Demenz gleichzusetzen. Solange keine weiteren Einschränkungen wie Orientierungsprobleme oder Persönlichkeitsveränderungen auftreten, sei Vergesslichkeit meist harmlos.
Die Zunahme von Demenz liege nicht nur an der älter werdenden Gesellschaft, sagt Schänzle-Geiger, sondern auch an besseren Diagnosen. Früher wurden neurokognitive Störungen oft als Altersverwirrtheit oder als Folgen von Arterienverkalkung abgetan. Erst Anfang der 1970er-Jahre begannen Wissenschaftler, die biologischen Prozesse hinter dem Altern und den kognitiven Veränderungen genauer zu erforschen.
Heidi Schänzle-Geiger rät: «Aktiv bleiben gegen das Vergessen, ganz nach dem Motto ‹use it or lose it› – benutze das Gedächtnis oder verliere es.» Körperliche und geistige Aktivität hielten das Gehirn fit – in jedem Alter. Eine gute Balance zwischen Arbeit und Freizeit helfe nicht nur, den Geist fit zu halten, sondern fördere auch das allgemeine Wohlbefinden.
Weitere Informationen unter www.alzheimer-schweiz.ch/thurgau. Unter 058 058 80 00 fungiert das nationale Alzheimer-Beratungstelefon als anonyme erste Anlaufstelle.