Stand: 12.06.2025 06:00 Uhr

Nell Zinks Roman „Sister Europe“ skizziert eine melancholische Berliner Februarnacht voller zielloser Figuren, die durch eine spannungsarme Handlung und subtile Gesellschaftskritik treiben.

von Katrin Krämer

So richtig gerne begleitet man die handelnden Figuren nicht in diese ungemütliche Berliner Februarnacht. Es ist kühl und regnerisch, man möchte keinen Hund vor die Türe jagen. Schon gar nicht den majestätischen Großpudel Mephisto. Des überzüchteten Pudels Kern ist, dass er auch kaltes, feuchtes Wetter nicht verträgt.

Er war sieben Jahre alt und lebhaft und trug sein schwarzes Fell in Lammschur, mit Schnurrbart, Knoten auf dem Kopf und Puscheln an allen Extremitäten, ein weicher rabenschwarzer Flaum, der seine empfindliche Haut vor der Sonne schützte.
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Eine trübselige Berlin-Nacht

Der Hund ist aber nur eine Begleiterscheinung im Roman, reine Staffage. Als Livias Beschützer darf er aber mit zu einem Kulturevent ins Berliner InterConti-Hotel. An diesem Abend trifft Livia hier ihren alten Freund, den Kunstkritiker Demian. Zur Literaturpreisverleihung werden Demians Freund Toto und sein Internet-Date Avancia ebenso kommen wie Demians Sohn Kilian. Der 15-Jährige nennt sich inzwischen Nicole, weil er gerade dabei ist, vielleicht doch eventuell lieber, aber sicher ist er nicht, eine Frau zu werden. Demian hadert mit Kilians Entscheidung, lässt es sich aber nicht anmerken, weil ihn das uncool machen würde und politisch total unkorrekt wäre. Demians Frau, Kilians Mutter Harriet, schaut der Tochterwerdung des Sohns gleichgültig zu.

Die Reaktion ihrer Mutter war eher ein „Was immer Du sagst, Schätzchen“, und Nicole fragte sich, ob sie ihr überhaupt zugehört hatte.
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Überhaupt lässt Nell Zink ihre Figuren viel „aneinander hin“, statt miteinander reden in dieser Nacht, die der langweiligen Preisverleihung folgt. Die Auszeichnung ging übrigens an den arabischen Autor Masud, das Geld wurde von der Emirs-Witwe Naema gestiftet. Statt ihrer ist ihr schwuler Neffe, Prinz Radi, anwesend und zieht anschließend mit den Zufallsbekanntschaften durch die Nacht. Vorher versucht er aber noch Kilian-Nicole zu verführen, die es unbedingt darauf anlegt, erste sexuelle Erfahrungen zu machen. Aber der Prinz zögert.

Er wollte nicht, dass es zu einfach war. Außerdem hegte er einen Widerwillen gegenüber hübschen weißen Oberschichtjungs, die ihr Geschlecht wechselten. Eigentlich tauschten die ihre Privilegien doch gegen ein Schild ein, auf dem TRITT MICH stand, das sie in Nicoles Alter aber jederzeit wieder ablegen konnten.
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Zinks Figuren taumeln trostlos umher

Spoiler: Man wird es nicht miteinander treiben. Aber man lässt sich treiben in dieser mäandernden Geschichte. Und aus dieser Ereignis- und Ziellosigkeit besteht im Wesentlichen die dünne Handlung. Zinks Figuren sind Gestalten, die nicht wissen, wohin mit sich, die anscheinend auch nicht einmal auf der Suche nach etwas sind. Diese Gemengelage gibt „Sister Europe“ etwas ungeheuer Trostloses. Dass Nell Zink Gesellschaftssatire kann, hat sie in ihren früheren Romanen bewiesen. In „Sister Europe“, titelgebend ist ein – für den Roman bedeutungslos bleibender – Song der englischen Punkrockband „The Psychedelic Furs“, gibt die Autorin uns zumindest punktuelle Gesellschaftskritik mit auf den Weg. Weil die literaturpreisstiftende ominöse Naema kaum Rückmeldungen auf ihre Einladung bekommen hat, wird Demian gebeten, so viele Leute wie möglich mitzubringen. Aber im Februar scheint es schwierig zu sein, jemanden zu finden, denn alle jetten – Klimawandel her oder hin – durch die Welt.

Wie „Berlin Alexanderplatz“ auf Speed

Dass ihre eigenen Romanfiguren – von „Charakteren“ zu sprechen wäre falsch, weil bei den nomadischen Existenzen kaum Innenleben beschrieben wird -, sich selbst nur oberflächliche Zukunftsgedanken machen, weil sie nicht einmal einen Gedanken an Mülltrennung verschwenden würden, macht solche Moralismen inhaltsleer. „Sister Europe“ ist zwar wenigstens in ordentlichem Berlin-Tempo erzählt, ein wenig „Berlin Alexanderplatz“ auf Speed, der Roman ist aber insgesamt viel zu überfrachtet. Starke Handlungsstränge, die die Geschichte zusammenhalten würden, fehlen. Für ein Lektürefazit wäre daher nur noch Demian zu zitieren:

„Was haben wir hier eigentlich verloren?“
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Sister Europe

von Nell  Zink

Seitenzahl:
272 Seiten
Genre:
Roman
Zusatzinfo:
Aus dem Englischen von Tobias Schnettler
Verlag:
Rowohlt
Bestellnummer:
978-3-498-00736-2
Preis:
24 €

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