Vier Luftangriffe binnen vier Tagen, Hunderte Drohnen und mehr als ein Dutzend Raketen: Die ukrainische Hauptstadt Kyjiw erlebt eine massive russische Angriffswelle.

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In den vergangenen Kriegsjahren lagen zwischen den Attacken meist mindestens einige Tage, manchmal sogar Wochen, und nur wenige Offensiven lassen sich mit den jüngsten Angriffen vergleichen. Dieses Mal hörten die Explosionen stundenlang nicht auf.

Die relativ geringe Zahl der Opfer erscheint vor diesem Hintergrund wie ein Wunder. Dafür danken die Kyjiwer den Luftabwehrkräften, die die meisten Luftziele abschießen.

Allerdings fallen dabei auch Trümmerteile auf die ganze Stadt und verursachen großflächige Brände. Nach dem jüngsten Angriff brauchten die Rettungskräfte zehn Stunden, um die Brände zu löschen.

Morgendliche Social-Media-Berichte aus Kyjiw werden zu einer Art Zählappell – jeder teilt mit, wie er die Nacht überstanden hat. „Dieser furchtbare Klang, wenn eine abgeschossene Drohne herunterfällt, ist nicht mit Worten zu beschreiben“, berichtet eine Einwohnerin. „Das Herz bleibt stehen, die Hände zittern und es scheint, als krieche die Angst in jede Zelle des Körpers.“

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Eine andere Frau erzählt, dass sie sich in der Nacht schon von ihrem Leben verabschiedet habe: „Eine Shahed-Drohne flog direkt auf uns zu, doch sie zog über das Dach hinweg und stürzte ganz in der Nähe ab. Das Haus bebte, aber hielt stand. Gott sei Dank, dass ich noch leben darf.“

Hauptstadt das Hauptziel der russischen Angriffe

Nach der schlaflosen Nacht kehren die Kyjiwer aber zurück zum Alltag: „Trotz allem ist die Sonne aufgegangen, das Böse trat zurück. Ich ändere meine Tagespläne nicht: Zahnarzt, Schwimmbad, Obst kaufen und weiterleben.“

Die Spezialoperation ‚Spinnennetz‘ hat Putin offensichtlich in Rage versetzt.

Witalyij Portnikow, Journalist

Doch für die Bewohner Kyjiws kommen die massiven Angriffe nicht überraschend. Man war innerlich darauf vorbereitet, dass Putin sich für den vernichtenden Angriff auf russische Flugplätze rächen würde. Und dass gerade die ukrainische Hauptstadt das Hauptziel seines Vergeltungsschlags sein könnte.

„Die Ukrainer ergeben sich nicht“

Die Spezialoperation ‚Spinnennetz‘ hat Putin offensichtlich in Rage versetzt“, schreibt der Journalist Witalyij Portnikow. „Er ist wütend, weil er die Ukraine nicht brechen konnte, und hat sich deshalb dafür entschieden, sie durch Terror zur Kapitulation zu zwingen.“

Er zieht auch eine Parallele zum Krieg in Tschetschenien (1999 bis 2009), als es dem Kreml nur durch die Bombardierung der Stadt Grosnyj gelang, den Widerstand zu zerschlagen.

Kommt jetzt Putins Rache? Russland vergleicht ukrainischen Großangriff mit „Pearl Harbor“

Der Politologe und Offizier der ukrainischen Streitkräfte, Kyrylo Sazonow, glaubt jedoch nicht, dass die Serie von Angriffen auf die Hauptstadt eine Vergeltungsmaßnahme für die ukrainische Spezialoperation vom 1. Juni ist.

Seiner Meinung nach handelt es sich eher um eine verzweifelte Reaktion: Putin könne keine überzeugenden Erfolge an der Front vorweisen. Trotz deutlicher militärischer Bemühungen gelinge es der russischen Armee bislang nicht, die Verteidigungslinie zu durchbrechen.

2700

Drohnen produziert Russland derzeit monatlich.

„Die Angriffe auf Wohngebiete, die Energieinfrastruktur und Krankenhäuser haben zugenommen, nachdem den Besatzern klar wurde, dass sie die Ukraine nicht einfach militärisch bezwingen können“, sagt Sazonow. „Die Streitkräfte der Ukraine wehren sich, und die Ukrainer begrüßen den Angreifer nicht mit Blumen – sie ergeben sich nicht.“

Deutlich mehr Drohnen im Einsatz

Ihm stimmt der Drohnenhersteller Jurij Kasjanow zu. „Für Putin ist es prinzipiell entscheidend, Kyjiw zu bombardieren, um die Einwohner in die Knie und die ukrainische Regierung zur Kapitulation zu zwingen“, schreibt er auf Facebook.

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Er glaubt auch, dass Putin die neue Welle des Terrors gegen die Zivilbevölkerung lange vorbereitet hat. Denn solche groß angelegten Angriffe werden nicht innerhalb von Tagen, sondern über Monate hinweg geplant.

Dabei fällt auf, dass Russland seine Taktik bei Luftangriffen in den vergangenen Wochen geändert hat: Der Raketenbeschuss hat abgenommen, dafür sind deutlich mehr Drohnen im Einsatz, die nach dem Prinzip eines Bienenschwarms gestartet werden.

Die Überreste einer Shahed-Drohne auf einem Gehweg in Kyjiw. Selbst wenn Drohnen abgeschossen werden, bleiben die Trümmerteile gefährlich.

© IMAGO/ZUMA Press Wire/IMAGO/Aleksandr Gusev

Nach Angaben des ukrainischen Geheimdienstes hat die russische Militärmaschinerie ihre Produktion innerhalb eines Jahres verfünffacht und produziert derzeit monatlich etwa 2700 Drohnen und weitere 2500 Attrappen. Dies ist offensichtlich eine ernsthafte Herausforderung für die ukrainische Luftabwehr.

Im Juni 2025 berichten die Luftstreitkräfte der Ukraine immer wieder von neuen Rekordangriffen. An manchen Tagen näherte sich die Zahl der über der Ukraine abgefeuerten Raketen und Drohnen 500 Stück.

Von nötigen Flugabwehrraketensystemen hat die Ukraine zu wenig

Wie der Oberst der ukrainischen Luftstreitkräfte, Jurij Ignat, schildert, starten die Russen nun ihre Drohnen aus großer Höhe – mehr als zwei Kilometer über dem Boden. Laut Ignat sind sie so für Handfeuerwaffen, großkalibrige Maschinengewehre und mobile Feuergruppen unerreichbar.

Somit liegt die ganze Last auf den Flugabwehrraketensystemen, von denen die Ukraine kaum genug hat. Zusammen mit den Drohnen vom Typ Shahed wird eine bedeutende Anzahl von Simulationsdrohnen ohne Kampfladung gestartet. Ihr Ziel sei es, die Flugabwehrsysteme noch stärker zu belasten.

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Und noch eine „Neuerung“: Anstelle der üblichen Streuung der Schläge über die gesamte Ukraine setzen die russischen Truppen immer häufiger die Taktik massiver Drohnenangriffe auf ein oder zwei Städte ein.

Neben Kyjiw wurden auch Riwne, Luzk und Odessa von großen Einzelangriffen getroffen. In der Nacht zum 11. Juni kam Charkiw hinzu. Mehrere Militärexperten ziehen bereits Parallelen zu Teppichbombardements und vermuten, dass Putin in den kommenden Monaten genau darauf setzt, um die Ukrainer zu zermürben.