Stand: 13.06.2025 21:34 Uhr

Deutschlands große Radsport-Hoffnung heißt Florian Lipowitz. Bei der Dauphiné-Rundfahrt fährt der 24-Jährige auf einmal an der Seite der absoluten Topstars seines Sports – nämlich Tadej Pogacar, Jonas Vingegaard und Remco Evenepoel. Damit verblüfft er Außenstehende, Gegner und sich selbst. Er könnte Deutschlands Tour-Joker werden.

Von Stephan Klemm, Combloux

Ganz vorne fährt Tadej Pogacar ein einsames Rennen, der Rest des Feldes ist distanziert, der slowenische Weltmeister hat am Freitag in den Alpen wieder einmal gezeigt, wie unwiderstehlich er in den Bergen ist. Am Abend eines heißen Tages hatte der Seriensieger des Radsports bei der sechsten Etappe des Critérium Dauphiné den für ihn typischen Doppelschlag gelandet: Tagessieg und Übernahme des Gelben Trikots. So weit so normal.

Normal war auch noch, dass sein erster Verfolger auf den Namen Jonas Vingegaard hört. Das Duell des Dänen mit Pogacar wird gewiss auch die Tour de France prägen, die am 5. Juli in Lille beginnt.

Unnormal jedoch war am Freitag, dass sich der junge Deutsche Florian Lipowitz (24) auf Platz drei der Tages- und der Gesamtwertung schob. Der Lohn für den sehr mutigen Auftritt des zunehmend starken Klassementfahrers von der Schwäbischen Alb ist die Übernahme des Weißen Trikots, das der beste Jungprofi tragen darf.

Lipowitz fährt in illustrer Runde

Lipowitz setzte in den Savoyer Alpen seine erstaunliche Reise bei dieser Dauphiné fort. Bei dem wichtigsten Vorbereitungsrennen auf die Frankreich-Rundfahrt überzeugte er von Tag eins an. Am vergangenen Dienstag schaffte er es sogar in eine Ausreißergruppe und nahm den Favoriten Pogacar, Vingegaard und Remco Evenepoel im Ziel der Kleinstadt Charantonnay 44 Sekunden ab.

Am nächsten Tag waren nur die großen Drei des Radsports sowie Matteo Jorgensson beim Zeitfahren von Saint-Péray schneller als Lipowitz, der als Fünfter bis auf Rang zwei der Gesamtwertung vorstieß. Die hatte dank eines überragenden Siegs im Kampf gegen die Uhr der Belgier Remco Evenepoel übernommen.

Am Berg stärker als Evenepoel

Am Freitag bogen die Teilnehmer der Dauphiné erstmals in die Berge ab, am Samstag und Sonntag, dem letzten Tag des Rennes, geht es noch einmal hoch hinaus über viele Alpen-Pässe. Dann wird sich zeigen, wie weit Lipowitz in seiner Entwicklung als Klassementfahrer bereits ist. Bisher überraschte er die Fachwelt, weil er alle Spielarten seines Sports beherrscht: Er kann Rennen antizipieren und es in eine Ausreißergruppe schaffen. Er ist stark in den Zeitfahren. Und unwiderstehlich in den Bergen.

Den Respekt seiner Gegner hat er sich damit längst erarbeitet. Evenepoel, Vingegaards Teamchef Grischa Niermann und Pogacars wichtiger Helfer Nils Politt bezeichnen den jungen Deutschen übereinstimmend als „sehr, sehr guten Fahrer mit großem Potenzial“.
Lipowitz selbst wundert sich zunehmend über seine derzeit guten Beine. „Mit Pogacar, Vingegaard und Evenepoel kann ich nicht mithalten. Das zu glauben, wäre vermessen“, sagte er am Freitag vor dem Start der sechsten Etappe.

Doch auf dem Weg zum Tagesziel oben in Combloux war er zwar nicht in der Lage, Pogacar und Vingegaard zu folgen, doch Evenepoel hatte er im Schlussanstieg abgehängt und im Ziel um fast 20 Sekunden distanziert. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich das schaffe“, sagte Lipowitz am Abend. Da trennten ihn im Gesamtklassement 54 Sekunden von Pogacar und elf von Vingegaard.

Biathlon-Hoffnung wird Radprofi

Die Geschichte des Florian Lipowitz ist die eines Seiteneinsteigers, der bereits eine Sportlerkarriere hinter sich hat. Lipowitz begann seine Laufbahn als Biathlet, bei den Junioren gewann er einst einen deutschen Meistertitel und galt als große deutsche Nachwuchshoffnung. Seine Familie siedelte wegen der besseren Trainingsbedingungen sogar nach Stams in Tirol um. Dort besuchte Florian Lipowitz das bekannte Skigymnasium und legte auch sein Abitur ab. Radfahren war für ihn damals nur Teil des Sommertrainings.

Doch Lipowitz musste als Biathlet aufhören, Verletzungen kamen dazwischen. Eine entzündete Wachstumsfuge im Knie machte das Langlauftraining phasenweise unmöglich, da war Lipowitz 16 Jahre alt. Bei einem Surfurlaub riss er sich bald darauf ein Kreuzband, die labilen Knie behinderten ihn fortan in der Loipe und am Schießstand so sehr, dass er seine Wintersport-Aktivitäten beenden musste. Auf dem Rad, das er stets für sein Sommertraining benutzte, jedoch erwies sich Lipowitz als Naturtalent. 2019, mit 18, gewann er die sehr anspruchsvollen Randmarathons im Engadin und in Imst.

Keine Startschwierigkeiten

Diese Leistungen blieben nicht unerkannt. Dan Lorang, der Perfomance-Manager von Bora-hansgrohe, wurde auf diesen wundersamen Radnovizen aufmerksam, traf sich mit ihm, checkte seine Daten und empfahl dringend, ihm eine Chance zu geben. Die erhielt er schon 2020 bei Tirol KTM, einer Art Farmteam von Bora-hansgrohe. Lipowitz tat das, was er auch jetzt auf dem Sattel macht: Er überzeugte, stieg 2023 in das mittlerweile in Red Bull-Bora-hansgrohe umbenannte World-Tour-Team von Ralph Denk auf und gewann erste kleinere Rennen in Tschechien und Rumänien.

Die Dauphiné ist die große Bewährungsprobe für Lipowitz. In Frankreichs Südosten startet er in einer freien Rolle, er ist der Kapitän einer jungen Auswahl und soll schauen, wie weit es für ihn in der Gesamtwertung nach vorne gehen kann. Gelingt dieser Probelauf, winkt ihm ein Start bei der Frankreich-Rundfahrt, dem größten Radrennen der Welt. Nach den bisherigen Leistungen dürfte Lipowitz ein Platz im Achterfeld seiner Tour-Delegation sicher sein.

Als Joker zur Tour?

„Übersehen können wir Florian nun nicht mehr“, sagt etwa sein sportlicher Leiter Bernhard Eisel, der findet: „Florian zeigt hier bei der Dauphiné Weltkasse-Leistungen“.
Die zeigte er schon im Spätsommer 2024 bei der Spanien-Rundfahrt als Edelhelfer von Primoz Roglic. Lipowitz chauffierte seinen slowenischen Kapitän zum Gesamtsieg und belegte selbst Rang sieben der Gesamtwertung. In diesem Frühjahr setzte Lipowitz die Serie beachtlicher Ergebnisse in Rundfahrten weiter fort: Rang zwei bei Paris-Nizza im März, Platz vier bei der Baskenland-Rundfahrt im April.

Auch bei der Tour soll Lipowitz eigentlich Roglic unterstützen. Doch der fiel zuletzt vor allem durch häufige Stürze und Rennaufgaben auf, zudem ist er bereits 35 Jahre alt. Es ist zu erwarten, dass Lipowitz bei der Frankreich-Rundfahrt eine Joker-Rolle erhält: Angreifen, schauen, was geht, die Fachwelt weiter verblüffen. Es wäre die Fortsetzung seines Auftritts bei der schweren Dauphiné.