Die rechtsextreme Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) ermordete zwischen 2000 und 2006 neun Menschen aus rassistischen Motiven sowie 2007 eine Polizistin. Zwei der Mordopfer lebten in München. Am Sonntag vor 20 Jahren wurde der Grieche Theodoros Boulgarides in seinem Geschäft im Westend erschossen.
Gedenkveranstaltung am Stachus
Die Familie von Boulgarides lädt gemeinsam mit der Stadt München am Sonntag ab 12 Uhr am Stachus zu einer Gedenkveranstaltung ein. „Theodoros Boulgarides war ein Münchner, ein Familienvater, ein Nachbar“, heißt es in einem Aufruf. „Wir können das Andenken an Theodoros Boulgarides am besten bewahren, indem wir den wachsenden Rechtsextremismus in unserem Land konsequent bekämpfen“, sagt Bürgermeister Dominik Krause (Grüne).
Ein eiskalt geplanter Mord
Zwei Wochen vor seiner Ermordung am 15. Juni 2005 eröffnete Theodoros Boulgarides gemeinsam mit einem Freund einen Laden in der Trappentreustraße: einen Schlüsseldienst. Als Neunjähriger kam er 1973 mit seinen Eltern von Griechenland nach München. Er machte Abitur und absolvierte eine Ausbildung als Einzelhandelskaufmann. Theo nannten ihn Freunde und Familie. Er arbeitete bei Siemens und mehr als zehn Jahre bei der Deutschen Bahn. Er gründete eine Familie und eröffnete am 1. Juni sein Geschäft. Zwei Wochen später wurde er von der rechtsterroristischen NSU in dem Schlüsseldienst erschossen. Er wurde mit drei Kopfschüssen regelrecht hingerichtet. Theodoros Boulgarides wurde 41 Jahre alt. Er hinterließ eine Frau und zwei Töchter. Theodoros Boulgarides war das siebte Todesopfer der deutschlandweiten Mordserie an Menschen, überwiegend mit türkischer Abstammung.
Theodorous Bolugarides ist im Westend ermordet worden.
© dpa
Theodorous Bolugarides ist im Westend ermordet worden.
von dpa
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Die Tatwaffe war eine Pistole vom Typ Ceská 83
Die Täter benutzten eine Pistole, eine Ceská 83 aus tschechischer Fertigung. Dieselbe Waffe wie bei all den anderen Morden, die die NSU-Terrorzelle über die Jahre verübte.
Nach seinem Tod hatte die Familie von Theodoros Boulgarides keine Gelegenheit, in Ruhe zu trauern, den Verlust zu verarbeiten, denn die Ermittlungen der Mordkommission richteten sich auch gegen sie und das Umfeld der Familie. Die Angehörigen wurden über angebliche Kontakte zu Drogendealern, zu illegalem Glücksspiel, zur türkischen Mafia, zu Prostitutionsringen, Internetkriminalität, Wettpaten und Waffenhändlern befragt.
Eine völlig falsche Spur
Die polizeilichen Ermittlungen fokussierten sich zunächst auf die Opfer selbst und auf deren Angehörige. In Richtung einer rechtsextremen Motivation wurde dagegen kaum ermittelt. Nachfragen des AZ-Reporters bei einer Pressekonferenz 2005 im Präsidium, ob nicht doch auch Neonazis mit den Morden etwas zu tun haben könnten, wies der damalige Chef der Mordkommission als „pure Spekulation“ zurück. Es gebe keinerlei Anhaltspunkte für diese Theorie.
Das zweite Mordopfer Habil Kiliç
Dabei gab es in München noch einen weiteren Toten, ein zweites Opfer des rechtsextremen NSU. Habil Kiliç starb im Alter von 38 Jahren am 29. August 2001 durch zwei Schüsse in den Kopf. Der türkische Gemüsehändler wurde im Geschäft der Familie, einem Feinkostladen für griechische und türkische Spezialitäten, in der Bad-Schachener-Straße in Ramersdorf ermordet. Er wurde unmittelbar hinter der Theke erschossen.
Habil Kiliç ist in seinem Geschäft in Ramersdorf getötet worden.
© AZ
Habil Kiliç ist in seinem Geschäft in Ramersdorf getötet worden.
von AZ
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Ein fleißiger Familienvater
Als Habil Kiliç und seine Frau Anfang der 1990er Jahre eine Tochter bekamen, zogen sie nach München. Die Anfangszeit war hart für sie. Der Familienvater hatte mehrere Jobs in Reinigungs- und Speditionsfirmen. Habil Kiliç arbeitete später hauptberuflich in der Großmarkthalle, nach Feierabend half er zudem seiner Frau im Gemüseladen aus, den sie inzwischen eröffnet hatten. Am Tattag war der 38-Jährige lediglich eingesprungen. Habil Kiliç hinterließ eine Frau und eine Tochter.
Mord neben der Polizeidienststelle
Der Tatort liegt in unmittelbarer Nähe einer Polizeidienststelle. Trotzdem entkamen die Mörder wieder unerkannt. Die Tatwaffe war wieder die Pistole vom Typ Ceska 83. Auch im Fall Kiliç konzentrierten sich die Ermittlungen zunächst auf vermeintlich existierende Kontakt des Opfers in das Umfeld der Organisierten Kriminalität, Glücksspiels oder Drogenhandels. Auch bei dem Mord an Habil Kiliç lagen die Ermittler völlig falsch, wie sich zeigte.
Die Opfer des NSU:
Enver Simsek, Inhaber eines Blumenhandels, wurde am 9. September 2000 an einer Straße in Nürnberg erschossen.
Abdurrahim Özüdogru wurde am 13. Juni 2001 in einer Änderungsschneiderei in Nürnberg getötet.
Süleyman Tasköprü, ein Obst- und Gemüsehändler, wurde am 27. Juni 2001 in Hamburg im Laden des Vaters getötet.
Mehmet Turgut wurde am 25. Februar 2004 an einem Döner-Kebab-Imbiss in Rostock ermordet.
Ismail Yasar, Inhaber eines Döner-Imbisses, wurde am 9. Juni 2005 in seinem Stand in Nürnberg erschossen.
Mehmet Kubasik, Besitzer eines Kiosks, wurde am 4. April 2006 in Dortmund getötet.
Halit Yozgat, Betreiber eines Internetcafés, wurde am 6. April 2006 in Kassel erschossen.
Die Polizistin Michèle Kiesewetter wurde am 25. April 2007 in Heilbronn erschossen. Ihr Kollege wurde lebensgefährlich verletzt.
Die NSU-Opfer: (oben, v.l.) Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kiliç und die Polizistin Michele Kiesewetter, sowie (unten, v.l) Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik und Halit Yozgat.
© dpa
Die NSU-Opfer: (oben, v.l.) Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kiliç und die Polizistin Michele Kiesewetter, sowie (unten, v.l) Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik und Halit Yozgat.
von dpa
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Das Terror-Trio: Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe
Die aus Jena stammenden drei Haupttäter Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe lebten ab 1998 im Untergrund in Chemnitz und Zwickau.
Erst im Herbst 2011 wurde der NSU enttarnt. In Eisenach in Thüringen brannte nach einem Banküberfall ein Wohnmobil. In dem Wrack wurden die Leichen der beiden Bankräuber Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gefunden. Sie hatten Selbstmord begangen.
Das Wohnmobil der NSU-Terrorzelle steht mit Brandspuren in der Asservatenkammer des Bundeskriminalamtes. Nach einem missglückten Banküberfall wurden vor 10 Jahren die Rechtsterroristen Mundlos und Böhnhardt tot in einem ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach gefunden.
© Oliver Berg (dpa)
Das Wohnmobil der NSU-Terrorzelle steht mit Brandspuren in der Asservatenkammer des Bundeskriminalamtes. Nach einem missglückten Banküberfall wurden vor 10 Jahren die Rechtsterroristen Mundlos und Böhnhardt tot in einem ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach gefunden.
von Oliver Berg (dpa)
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Beate Zschäpe hatte nach dem Brand des Wohnmobils die gemeinsame Wohnung des Terror-Trios in Zwickau (Sachsen) angezündet, offenbar um belastendes Beweismaterial zu vernichten. Zschäpe stellte sich wenig später in Jena der Polizei. Dem NSU werden zusätzlich zu den Morden zwei Sprengstoffanschläge und ein gutes Dutzend Raubüberfälle zugerechnet.
Das NSU-Terror-Trio: Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos (v.re.)
© MDR Mitteldeutscher Rundfunk (MDR MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK)
Das NSU-Terror-Trio: Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos (v.re.)
von MDR Mitteldeutscher Rundfunk (MDR MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK)
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Im Juli 2018 wurde Zschäpe vom Münchner Landgericht zu einer lebenslanger Haft verurteilt – unter anderem für zehnfachen Mord und der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Fünf Jahre lang wurde vor dem Münchner Gericht gegen sie verhandelt, inzwischen ist das Urteil gegen Zschäpe rechtskräftig. Bis heute sind trotz etlicher Untersuchungsausschüsse in verschiedenen Landtagen und im Bundestag noch viele Dinge ungeklärt. Auch die Rolle der Sicherheitsbehörden, insbesondere des Verfassungsschutzes, wurde im NSU-Komplex nie vollständig aufgeklärt.