Beim Joggen in der Großstadt bleibt ein freundlicher Gruß oft unbeantwortet – ganz anders als im Heimatort unseres Autors. Welche Unterschiede es zwischen Stadt und Land gibt – und warum das Thema mehr mit gesellschaftlichen Erwartungen zu tun hat, als es scheint.

Ich laufe meine zweite Runde in einem Berliner Park. Wieder begegnet mir der schwarz gekleidete Läufer: 1,80 Meter groß, drahtige Statur, ein Stirnband hält die mittellangen Haare zurück. Ich weiß, dass wir ähnlich schnell sind – unsere Wege kreuzen sich oft am selben Punkt. Als wir uns nähern, sieht er mich an. Ich schaue zurück, hebe langsam die Hand und zeige ein lässiges „Thumbs up“. Und er? Macht gar nichts. Grußlos läuft er an mir vorbei, und mein hochgereckter Daumen bleibt in der Luft hängen – genau wie mein Glaube an gegenseitige Verbundenheit. Wieder wurde ich nicht gegrüßt, und mir fehlt die Motivation für eine dritte Runde.

Aufgewachsen in einem Dorf in Süddeutschland, wurde mir das Grüßen schon früh beigebracht. Man kennt sich – zumindest vom Sehen –, und wer nicht grüßt, mit dem stimmt etwas nicht. In „der Stadt“ ist das anders: mehr Menschen, mehr Anonymität, weniger sozialer Bezug. Wer hier jeden grüßt, mit dem stimmt etwas nicht.

Vielleicht liegt es nicht nur am Unterschied zwischen Dorf und Stadt, sondern auch am regionalen Temperament. Manche Regionen gelten als zugeneigter als andere. Eine rheinische Frohnatur grüßt eher als eine Berliner Schnauze. An der grundsätzlichen Beobachtung, die viele Freunde und Bekannte teilen – nämlich, dass immer weniger gegrüßt wird, nicht nur beim Sport –, ändert das jedoch nichts.

Ich jedenfalls möchte meine Gewohnheit, zumindest beim Laufen, nicht ablegen – auch nicht in einer Großstadt, nicht einmal in Berlin. Ich grüße und weiß es zu schätzen, wenn mein Gegenüber es ebenso tut. Werde ich gegrüßt, fühle ich mich gesehen, wertgeschätzt und als Teil einer Mikro-Community im städtischen Getriebe. Ein beiläufiger Gruß gibt mir die Kraft für eine weitere Runde. Die Grußformen reichen von Zunicken und Anlächeln über einzelne Ausrufe bis hin zum erhobenen Daumen – gern auch alles auf einmal. Das Einzige, das ich nicht akzeptiere, ist grußloses Aneinandervorbeilaufen.

Jede Laufrunde eine Studie in urbaner Begegnungskultur

Natürlich bin ich auch mal in Gedanken. Ich nehme es niemandem übel, der sichtbar tagträumend seine Runden dreht oder im Schlusssprint ums Überleben kämpft. Doch für die niemals grüßenden Dauerläufer habe ich kein Verständnis. Mittlerweile erkenne ich sie sofort: Serientäter, die aus der Ferne starren und im letzten Moment den Blick abwenden. Aktives Nichtgrüßen.

Jeder meiner Läufe ist eine Mini-Studie urbaner Begegnungskultur. Die höchste Grußquote erlebt man zu Randzeiten – frühmorgens, spätabends, bei Kälte oder an abgelegenen Orten. Vielleicht, weil man sich in solchen Momenten gegenseitig bestätigt: Wir sind hier, wir kämpfen gegen den inneren Schweinehund – und gewinnen gerade.

Ein befreundeter Läufer grüßt vor allem „nach unten“, wie er sagt – also Läuferinnen und Läufer, die sichtbar weniger trainiert sind oder gerade erst anfangen. Er möchte motivieren und Mut machen, damit sie dranbleiben. Das kenne ich auch von mir selbst: Wenn mich jemand grüßt, der fitter ist, freut mich das besonders – es fühlt sich an wie ein kleines Schulterklopfen. Oft steckt darin ein unausgesprochener Code: Der Stärkere signalisiert Wohlwollen, der Schwächere dankt mit einem Nicken. Auch beim Vorbeilaufen spiegeln sich implizite Hierarchien – nicht unbedingt problematisch, aber dennoch präsent.

Eine Freundin von mir grüßt, wenn überhaupt, nur andere Läuferinnen. Zu oft sei ein sportlich gemeinter Gruß von Männern als Flirtversuch verstanden worden – gerade dann, wenn sie allein unterwegs war. Ihr selektives Grüßen ist kein Statement, sondern eher eine pragmatische Vorsichtsmaßnahme. Joggen im Park ist für sie eben nicht nur Bewegung, sondern auch das Navigieren zwischen unausgesprochenen Erwartungen. Auch das gehört zur Laufrealität: Ob man grüßt, hängt nicht nur von Tageszeit und Tempo ab – sondern auch vom Sicherheitsgefühl im öffentlichen Raum.

Es scheint, jeder hat beim Joggen seine eigene Logik, seine Regeln, seine Distanzen – sowohl körperlich als auch sozial. Und das ist völlig in Ordnung. Doch wer läuft, sollte die Kraft kleiner Gesten kennen: die Motivation aus einem Blick, die stille Solidarität im Vorbeiziehen. Denn auch im scheinbar beiläufigen Gruß verhandeln wir Zugehörigkeit, Nähe und Respekt. Wir senden Signale: Wer sieht wen? Wer nimmt wen ernst? Und wer fühlt sich sicher genug, überhaupt zu grüßen? In einer Zeit, in der soziale Kontakte oft in Chats und Feeds stattfinden, ist so ein kurzer Blickkontakt fast schon ein analoges Like – ehrlich, ungefiltert, nicht scrollbar.

Im Laufe der Arbeit an diesem Text habe ich meine Haltung geändert. Ich bin mit Wut, Unverständnis und einem durch Dorfsozialisation geschärften Blick ins Thema gestartet. Aber je mehr ich mich mit dem Grüßen und Nichtgrüßen beschäftige, desto mehr erkenne ich die Vielschichtigkeit dahinter: persönliche Routinen, Schutzmechanismen, Missverständnisse, implizite soziale Codes. Das alles relativiert mein erstes Urteil – aber es hebt es nicht auf.

Ich verstehe, dass nicht jeder Mensch immer grüßen möchte – besonders, wenn das harmlose Lächeln einer Frau als mehr als das verstanden wird. Auch Tagträumerei, Erschöpfung oder einfach schlechte Tage sind legitime Gründe, im eigenen Tunnel zu bleiben. Gleichzeitig bleibe ich dabei: Wer konsequent durch andere hindurchläuft, statt sie wenigstens wahrzunehmen, macht den öffentlichen Raum kälter, als er sein müsste. Ich möchte nicht Teil einer Laufkultur sein, in der jeder nur auf sich selbst fixiert seine Bahnen zieht.

Ich werde weiter grüßen. Nach oben, nach unten, Frauen, Männer und alle dazwischen – quer durch den Park, Runde für Runde. Nicht nur aus Höflichkeit, sondern aus Überzeugung. Als Zeichen von Respekt, Aufmerksamkeit, Zugehörigkeit. Meine Hand bleibt oben – als Einladung, nicht als Appell. Aber eben auch als Haltung gegen die Gleichgültigkeit.

Nikias Thißen ist Director Paid Content von WELT und Business Insider. Er lebt seit zehn Jahren in Berlin, läuft regelmäßig, trainiert gerade für den Berlin-Marathon und hat jetzt schon Angst davor.