Schon die Nominierung ist eine Auszeichnung, für die Künstlerin wie auch für die Kunstform Comic: Zum ersten Mal steht in diesem Jahr ein Comic auf der Shortlist für den Deutschen Sachbuchpreis. Der wird am 17. Juni in der Hamburger Elbphilharmonie verliehen, acht Titel sind nominiert. Darunter befindet sich neben sieben Sachbüchern im klassischen Sinne auch Ulli Lusts Graphic Novel „Die Frau als Mensch: Am Anfang der Geschichte“. 

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In diesem Sachcomic rekapituliert die international erfolgreiche Berliner Zeichnerin („Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“) neue Erkenntnisse zur menschlichen Frühgeschichte, in denen Frauen eine wichtigere Rolle als in der klassischen Ethnologie und Archäologie zukommt. Sie verbindet das mit persönlichen Anekdoten und humorvollen Beobachtungen zum Verhältnis der Geschlechter in der Gegenwart.

Die besten Comics der Saison

© Reprodukt

Ulli Lusts „Die Frau als Mensch: Am Anfang der Geschichte“ wurde kürzlich auch von einer Jury aus 30 deutschsprachigen Comic-Kritikerinnen und -kritikern als beste Neuerscheinung der Saison gewählt. Mehr dazu und zu den anderen Favoriten hier.

Der Preis für das Sachbuch des Jahres wird in diesem Jahr zum fünften Mal vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels verliehen. Stifter ist die Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins.

International erfolgreich: die Berliner Comicautorin Ulli Lust

© Promo/Alex Englert

Männliches Imponiergehabe ist Ulli Lust seit Kindertagen suspekt. Das vermittelt sie zu Beginn ihres Buches humorvoll mittels einer Szene aus ihrer Jugend. Da zeigt ein Cousin ihr stolz die Kunst des Stehpinkelns. Doch die sechsjährige Ulli empfindet nur „Penismitleid“.

Scham und Abwertung statt Selbstbewusstsein und Macht

Seitdem fragt sie sich immer wieder, wie es sein kann, dass männliche Körper oft mit Selbstbewusstsein und Macht verbunden sind, die weiblichen hingegen mit Scham und Abwertung. Ausgehend von dieser Verwunderung spürt die 57-Jährige der Frage nach, woher das kommt.

Bekannt wurde Lust mit autobiografischen Comics wie „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“, in denen sie sich schonungslos mit dem Geschlechterverhältnis auseinandergesetzt hat. Dieser persönliche Blick zeichnet auch die besten Passagen in „Die Frau als Mensch“ aus.

Eine Szene aus Ulli Lusts Buch „Die Frau als Mensch“, Band 1, Reprodukt, 256 S., 29 €.

© Ulli Lust: „Die Frau als Mensch“ / Reprodukt

Zum größten Teil ist es allerdings eher ein Sachcomic, der neue Erkenntnisse zur menschlichen Frühgeschichte rekapituliert, die überlieferte Annahmen infrage stellen. Lust zeigt anschaulich, wie groß die Defizite nach wie vor sind – nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im Alltag des 21. Jahrhunderts. „Die Frau als Mensch“ ist als erster Teil eines zweibändigen Werks angelegt.

„Auf fundierte Art verknüpft die Autorin aktuelle Perspektiven aus archäologischer Forschung, Anthropologie und Gender Studies“, heißt es in der Begründung der Jury zur Nominierung von „Die Frau als Mensch“. Lusts Blick sei „außerordentlich frisch“, der breite fachliche Ansatz führe zu überraschenden Schlüssen: „Eine Geschichte, die über viele Jahrtausende voll von weiblicher Repräsentation ist, muss weiblich gelesen werden.“

Die Visualisierung des Texts in Form der Graphic Novel verbindet sich auf diskursive Weise mit dem Text und stellt so eine weitere Ebene her.

Aus der Jurybegründung zur Nominierung von Ulli Lusts Comic „Die Frau als Mensch: Am Anfang der Geschichte“.  

Die Visualisierung des Texts in Comicform gehe dabei „weit über die rein deskriptive illustrative Darstellung hinaus“, lobt die Jury. „Sie verbindet sich auf diskursive Weise mit dem Text und stellt so eine weitere Ebene her“. Ulli Lusts Buch sei „quasi der Dokumentarfilm unter den Graphic Novels und daher ein Sachbuch im besten Sinne“.

Eine weitere Seite aus Ulli Lusts Comics „Die Frau als Mensch“

© Reprodukt

Die anderen in diesem Jahr für den Sachbuchpreis Nominierten sind Ingo Dachwitz und Sven Hilbig mit „Digitaler Kolonialismus: Wie Tech-Konzerne und Großmächte die Welt unter sich aufteilen“, Aladin El-Mafaalani, Sebastian Kurtenbach und Klaus Peter Strohmeier mit „Kinder – Minderheit ohne Schutz: Aufwachsen in der alternden Gesellschaft“, Franz-Stefan Gady mit „Die Rückkehr des Krieges: Warum wir wieder lernen müssen, mit Krieg umzugehen“.

Zudem Ines Geipel mit „Fabelland: Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück“, Martina Heßler mit „Sisyphos im Maschinenraum: Eine Geschichte der Fehlbarkeit von Mensch und Technologie“, Walburga Hülk mit „Victor Hugo: Jahrhundertmensch“ und Bernhard Kegel mit „Mit Pflanzen die Welt retten: Grüne Lösungen gegen den Klimawandel“.

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Am Vorabend des Deutschen Sachbuchpreises stellen die Nominierten ihre Werke in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften vor: 16. Juni, 18 Uhr im Leibnizsaal (Markgrafenstraße 38). Anmeldung unter: bbaw.de.