Stuttgart. In Deutschland leben mehr als 13 Millionen Menschen, die eine sichtbare oder eine unsichtbare Beeinträchtigung haben. Obwohl Deutschland laut UN -Behindertenrechtskonvention sicherstellen soll, dass Menschen mit Behinderung Zugang zu Orten kultureller Darbietungen oder Dienstleistungen wie Theatern, Museen, Kinos oder Bibliotheken haben, sieht die Realität häufig anders aus. Florian Eib, Tomke Koop und Matthias Nagel arbeiten mit Hörmal Audiodeskription daran, dass sich nicht nur in der Stuttgarter Theaterlandschaft etwas ändert.
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Am Termin mit der Redaktion laufen d ie letzten Vorbereitungen für die Aufführungen von „Sein oder Nichtsein“ am Altstadttheater Stuttgart. I n einem Hinterraum des Theaters sitzen Florian Eib, Tomke Koop und Matthias Nagel zusammen und diskutieren über die beste Beschreibung der Handbewegung einer Schauspielerin. Viel Raum für Diskussion – schließlich soll in Wörtern beschrieben werden, wie das sehende Publikum in die Geste interpretiert. „Es gibt auch Stellen, da wissen wir genau, dass wir sie beschreiben, sie aber nicht im Kopf bleiben werden. Bei anderen Szenen wissen wir genau, dass nach dem Stück darüber gesprochen wird,“ sagt Florian Eib. „Da nehmen wir uns auch richtig Zeit dafür.“
Die Deskription wird mit einer Aufzeichnung der Premiere vorbereitet – dennoch zählt bei der Live-Audiodeskription Spontanität: Etwa wenn der Schauspieler seinen Einsatz verpasst oder gar eine andere Bewegung auf der Bühne macht als eigentlich vorgesehen. „Unvorhergesehene Sachen bleiben in Erinnerung, deswegen sage ich gerne, dass jetzt hier eigentlich etwas anderes geplant gewesen wäre. Es ist dann auch etwas ironisch, wenn der Nicht-Sehende am Ende mehr über das Stück weiß, als der sehende Zuschauer“, sagt Florian Eib. „Wir wollen ja irgendwie Events auch kreieren, ne und es geht darum, dass die Leute rausgehen und sich an bestimmte Dinge erinnern sollen.“ Im Idealfall soll das blinde Publikum außerdem an denselben Stellen lachen wie das sehende – das sei ihr Anspruch.
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Von der Idee zur Umsetzung: So entsteht eine Audiodeskription
Bevor aber ein Stück mit Deskription angeboten werden kann, ist es oft ein langer Prozess, der in der Regel ein Jahr lang dauert. Die Veranstaltungen müssen früh angekündigt werden, damit die Gäste ihren Aufenthalt bestmöglich planen können. Die meisten Zuschauer, die Florian Eib, Tomke Koop und Matthias Nagel am Altstadttheater in Stuttgart erwarten, nutzen die Angebote von Hörmal häufig und reisen dafür oft auch quer durch Deutschland. Als das Theater der Altstadt nach einem Workshop auf Matthias Nagel zugekommen ist, wurden erste Absprachen zur Aufmachung des Stücks geführt. Welches Stück eignet sich? Sind die Homepage und der Ticketverkauf für Sehbehinderte geeignet? Welche Plätze können reserviert werden, sodass Menschen mit einem Rest-Sehen die Möglichkeit haben, auf die Bühne zu blicken? Ist eine Tastführung und Bühnenbegehung im Vorfeld möglich? Können die Besucher die Stimmen der Schauspielenden vorab hören, um sie im Stück den Rollen leichter zuordnen zu können? Ist die Beschreibung des Stücks für Nicht-Sehende aussagekräftig genug?
„Man erschafft ja kein neues Kunstereignis, aber man kann und sollte es schon als Teil der Kunst verstehen“, so Florian Eib. „Man kann uns schon mit Gebärden-Dolmetschenden vergleichen, weil beides ja eine Art Übersetzungsleistung ist – ganz formell. Wir haben allerdings den Vorteil, dass unser Produkt dann auch für alle Menschen zugänglich ist.“ Am liebsten würde er deshalb die Deskription im Nachhinein als Podcast anbieten. Bisher sei das aber nur ein Wunsch und nicht in Planung.
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„Von Barrierefreiheit weit entfernt“
Die Arbeitsgemeinschaft zwischen Matthias Nagel, der als blinde Person und Experte für Inklusion im Kunst- und Kulturbereich unter anderem die Ausstellung „Blind Date“ im Stadtpalais Stuttgart kuratiert hat, und Florian Eib und Tomke Koop der H örmal Audiodeskription UG bestehe seit zwei Jahren. Matthias Nagel sei vor allem als Bindeglied an die lokale Kulturszene in Stuttgart wichtig. Denn langfristig sei es das Ziel, auch fernab von Förderung Audiodeskription im Kulturbereich anzubieten. Nachhaltige Lösungen brauchen vor allem auch eine Bereitschaft der Einrichtungen selbst und gerade kleinere Theater scheitern häufig an der langfristigen Finanzierung.
Charis Hager, Dramaturgin am Altstadttheater, konnte gemeinsam mit dem Intendanten Christof Küster das Stück für Menschen mit Sehbehinderung im Rahmen einer Förderung möglich machen. Aber sie sagt selbst: „Wenn man davon ausgeht, dass nach UN-Behindertenrechtskonvention Teilhabe ein Menschenrecht ist, sind wir von Barrierefreiheit noch weit entfernt.“ Sie sehe Bewegung, vieles scheitere aber an den finanziellen Mitteln – vor allem die kleinen, privaten Theater treffe das stark.
Sind die Kultureinrichtungen in Stuttgart zugänglich?
Laut einer Status Quo Analyse der Stadt Stuttgart zur Barrierefreiheit von Kulturangeboten werde in den Kultureinrichtungen an erster Stelle auf die Bedarfe von Rollstuhlfahrer∗innen reagiert. Die Analyse stellt dabei eine Zusammenfassung von Panel-Veranstaltungen mit Teilnehmenden mit körperlicher, geistiger und seelischer Behinderung dar. Damit barrierefreie Formate entstehen, müssen sich die Kultureinrichtungen demnach mit den unterschiedlichen Bedarfen von Menschen mit Behinderungen auseinandersetzen – dies sei zeit- und ressourcenintensiv.
Das bestätigt auch Charis Hager: „Beim Punkt Mobilität zum Beispiel sind uns die Hände gebunden. Rein baulich bekommen wir keine barrierefreie Toilette, weil sie nur im Untergeschoss zu erreichen ist. Da müsste so viel Geld von der Stadt oder vom Land kommen, das ist so schnell nicht umsetzbar.“ Auch dass es ein Stück mit Audiodeskription und nicht etwa ein Stück in leichter oder in Gebärdensprache, sei ein finanzieller Aspekt gewesen.
Charis Hager – Dramaturgie und Kulturvermittlung am Theater der Altstadt in Stuttgart. © Fioruccio CascinoInklusives Theater in Deutschland: Wo stehen wir?
„Ich glaube, wir sind gerade an einem sehr spannenden Punkt, weil sich gerade im Kulturbereich viele auf den Weg machen und gerade Themen wie Inklusion und Barrierefreiheit im Moment sehr, sehr hoch hängen – mit allem was dafür und dagegen spricht“, sagt Matthias Nagel. Statt einem Quantitätsunterschied sehe er eher einen Qualitätsunterschied. Er fordert, dass sich Kulturschaffende mit der Frage beschäftigen: Wie kann man Diversität und Inklusion nicht nur ausprobieren, sondern nachhaltig Strukturen schaffen? Es fehle vor allem auch an Menschen, die sich professionell damit beschäftigen – wie Hörmal. Seine Kollegin Tomke Koop hingegen kritisiert noch einen weiteren Punkt: Die Theater müssen den Menschen das Gefühl vermitteln, dass sie willkommen sind, auf sie eingegangen wird – dass sie vor allem auch viele Menschen begrüßen möchten.
Denn nach wie vor herrsche bei Menschen mit Seheinschränkung und Sehbehinderung die Annahme, dass Museums- und Theaterbesuche für sie nicht zugänglich sind. Auch deshalb ist es das Ziel von Hörmal „mehr Blinden die Möglichkeit zu geben, an Veranstaltungen teilhaben zu können“, so Matthias Nagel. Es sei „ein großes Geschenk“, nicht nur Menschen mit Seheinschränkung an Kultur teilhaben lassen zu können, sondern zum Beispiel auch Ehepaaren, bei denen bei einem Partner oder Partnerin die Augen schlechter werden, wieder gemeinsame Momente zu ermöglichen.
HörMal: Angebote für Menschen mit Seheinschränkung und Sehbehinderung
„Sein oder Nichtsein“ wird am 28. Juni am Altstadttheater in Stuttgart noch einmal mit Audiodeskription aufgeführt. Über alle weiteren Veranstaltungen informiert Hörmal im Veranstaltungskalender (hier ) oder per E-Mail-Newsletter (hier ).