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Viele von Ihnen machten Karriere: Ende der 1980er-Jahre ließen sich die Köpfe der ostwestfälischen Musikszene porträtieren. Heute noch erfolgreich sind etwa Frank Spilker von der Band Die Sterne (ganz hinten), Jochen Distelmeyer, einst Kopf der Band Blumfeld (vorletzte Reihe links), und Bernadette Hengst (vorne links). © Johannes Meyer/nh
Bands wie Tocotronic und die Hamburger Schule haben den deutschsprachigen Pop revolutioniert. Die Anfänge der Bewegung liegen in Ostwestfalen. Über eine unglaubliche Geschichte.
Eine der wichtigsten Bewegungen des deutschsprachigen Pop wurde einst unweit von Nordhessen erfunden. Die Hamburger Schule, die ab Ende der 1980er-Jahre mit Bands wie Tocotronic und Blumfeld den Pop neu erfand, hatte ihren Ursprung im ostwestfälischen Bad Salzuflen bei Bielefeld. Viele der Protagonisten, die später Karriere machten, arbeiteten damals in der Kurstadt beim Musiklabel Fast Weltweit zusammen. Der Kasseler Autor Christof Dörr erzählt diese Geschichte in seinem neuen Buch „Fast Weltweit. Wie die Hamburger Schule in Ostwestfalen erfunden wurde“. Wir sprachen mit dem 52-Jährigen.
Herr Dörr, schon im vorigen Jahr wurde die Hamburger Schule durch eine ARD-Doku wiederentdeckt. Warum ist diese Musikbewegung um Bands wie Die Sterne, Blumfeld und Tocotronic so wichtig für den deutschsprachigen Pop?
Die Hamburger Schule hat damals die deutschsprachige Popmusik auf ein anderes Level gehoben. Anders als andere Bands und Künstler wie Bap und Udo Lindenberg haben ihre Vertreter Musik etwas anders gedacht. Bands wie die Goldenen Zitronen haben mehr über textliche Inhalte nachgedacht als allein über die Musik. Das war das Neue und durchaus Revolutionäre. Die Sterne haben zudem Soul und Funk integriert. Das alles kann man auch nicht mit der Neuen Deutschen Welle Anfang der 1980er-Jahre vergleichen.
Warum wurde die Hamburger Schule ausgerechnet in Bad Salzuflen, einem 50.000-Einwohner-Kurstädtchen in Ostwestfalen, erfunden?
Zumindest wurde dort der Grundstein gelegt. Damals kamen im beschaulichen Ostwestfalen einfach sehr viele Musiker zusammen, die später nach Hamburg zogen und die kreative Szene dort maßgeblich prägten. Jochen Distelmeyer wurde Sänger bei der prägenden Band Blumfeld, Frank Spilker hatte die Sterne bereits gegründet, als er noch beim Label Fast Weltweit war, dachte die Band in Hamburg aber noch mal ganz neu. Sänger Bernd Begemann wiederum machte etwas ganz anderes und bekam einen Vertrag bei einer großen Plattenfirma. Wie Bernadette La Hengst sind alle bis heute erfolgreich.
Sie haben schon Biografien über die Eschweger Punk-Band The Bates und Nikel Pallat von Ton Steine Scherben geschrieben. Warum nun ein Buch über das Label Fast Weltweit?
Ich war nie ein Fan der Hamburger Schule. Aber ich hatte viele Freunde, die im Keller oder der Garage Musik machten, dabei Bier tranken und davon träumten, vor 10.000 Menschen bei einem Festival aufzutreten. Die gibt es überall. Meistens ist es so, dass sie irgendwann studieren und ihren Traum aufgeben, Musiker zu werden. In Bad Salzuflen haben sich diese kreativen jungen Menschen jedoch gedacht: „Komm, wir beweisen allen, dass wir es schaffen.“ Spilker und Distelmeyer lebten Anfang der 1990er-Jahre in Hamburg in einer WG zusammen und sollen sich damals angeblich gesagt haben: „Entweder wir lassen es jetzt mit der Musik oder wir erfinden die Popmusik neu.“ Es war ein Kosmos, in dem man sich gegenseitig befruchtet hat. Diese Geschichte fand ich schön.
War es einfach Zufall, dass das ausgerechnet in Ostwestfalen passierte?
Ein bisschen. Mit Frank Werner gab es hier jemanden, der kein Musiker war, aber ein Aufnahmegerät hatte. Damals konnte man sich nicht einfach zu Hause an einen Computer setzen und Songs aufnehmen. Werner hatte etwas Geld geerbt und baute damit die Garage seiner Oma zu einem kleinen Tonstudio aus. Das war ein bisschen wie beim Computerriesen Apple, der ebenfalls in einer Garage gegründet wurde. Dank Frank Werner konnten die Ideen aufgenommen werden. Ohne ihn hätten die anderen nicht Karriere gemacht. Und ohne das Label Fast Weltweit hätte es die Hamburger Schule in dieser Form nicht gegeben.
Im Buch heißt es, die Pro㈠tagonisten seien „belesene Intellektuellenkinder“ gewesen. Nervt es Sie auch, dass die Hamburger Schule so verkopft war und wenig Humor hatte?
Das kann ich schon nachvollziehen. Ich war nur Fan von Tocotronic, weil die auch Humor hatten. Die anderen Bands waren tatsächlich abgehoben und verkopft. Blumfeld haben sich nach einer Erzählung von Franz Kafka benannt. Man konnte diese Musik nicht hören, ohne sich auch mit Literatur zu beschäftigen. Es bestand immer die Gefahr, dass einen jemand fragte, wie man das Zitat von Albert Camus im neuen Blumfeld-Song findet. Ich hätte dann sagen müssen: „Das ist mir gar nicht aufgefallen. Ich habe nur die Musik gehört.“
Im Song „Let There Be Rock“ von Tocotronic, die im Juli übrigens im Kasseler Kulturzelt spielen, über das Leben in der Provinz gibt es die schöne Zeile: „Das haben sich die Jugendlichen selbst aufgebaut.“ Warum entsteht großer Pop oft auch abseits der Metropolen?
Weil dort oft nicht viel los ist. In der Großstadt hat man viel Abwechslung, selbst in Kassel kann man tausend Sachen machen. Die Bates aus Eschwege konnten dort nicht viel unternehmen, also nahmen sie Punkmusik auf. So lenkt man sich ab von dem Leben, was nicht so spannend ist. In Bad Salzuflen und Herford war das ähnlich. Selbst nach Bielefeld muss man ja erst mal kommen. Heute kommen dazu die digitalen Möglichkeiten. Ein Hit kann quasi überall aufgenommen werden.
Sie haben elf Musiker angefragt und erhielten zehn Zusagen. Nur Jochen Distelmeyer wollte nicht mit Ihnen reden.
Von ihm habe ich nicht mal eine Absage erhalten. Irgendwann schrieb ich ihm, dass es schön wäre, wenn er mir schriebe, dass er keine Zeit oder Lust habe, aber selbst darauf kam nichts. Ich habe festgestellt, dass es auch anderen Journalisten so erging. Es ist ganz offenkundig so: Wenn über die Zeit von damals gesprochen wird, will er damit nichts zu tun haben. Seine damalige Band Die Bienenjäger war eine harmlose poppige Geschichte. Jochen Distelmeyer möchte als alleinstehender Musiker gesehen werden, und nicht als jemand, der es durch andere geschafft hat
Wie denken die Menschen in Ostwestfalen über dieses Stück deutscher Pop-Geschichte?
Es gibt kein Denkmal für die Protagonisten von damals oder etwas anderes. Viele Leute wissen, dass die Sterne aus Bad Salzuflen und Herford kommen, aber von der eigentlichen Geschichte und vom Label Fast Weltweit wissen sie kaum etwas. Auch deshalb fand ich es interessant, die Geschichte zu erzählen.
Sie schreiben Ihre Bücher nachts, während Ihre Familie schläft, weil sie tagsüber für den Hessischen Rundfunk arbeiten. Sie müssen doch unglaublich müde sein.
Manchmal schon, ja. Vor allem kurz vor einer Deadline schreibe ich oft bis nachts um drei. Das ist schon schwierig. Meine Kinder lachen, wenn ich schon vor der „Tagesschau“ einschlafe. Aber jetzt habe ich erst einmal kein Projekt und kann genügend schlafen. (Interview: Matthias Lohr)