Bielefeld. Rund um die Justizvollzugsanstalten (JVA) Bielefeld-Brackwede und Bielefeld-Senne (Hafthaus Ummeln) findet seit Dienstagmorgen, 17. Juni, ein großer Polizeieinsatz statt. Aus dem geschlossenen Teil des Hafthauses Ummeln ist nach Auskunft der Polizei ein Häftling (39) ausgebrochen. Der Gefangene gilt als gewalttätig und soll mit Waffengewalt gegen Polizisten gedroht haben. Die Polizei warnt davor, Anhalter mitzunehmen. Der Gesuchte hat nach Angaben von JVA-Sprecher Jens Seidler ein drei Meter hohes Tor und einen Zaun im Nu überwunden. Fünf Bedienstete der JVA waren nicht in der Lage, dem flinken Kletterer hinterherzukommen, bevor sich das elektrische Rolltor öffnete und sie die Verfolgung aufnehmen konnten.

Gegen 7.35 Uhr wurde die Leitstelle der Polizei Bielefeld darüber informiert, dass ein 39-jähriger inhaftierter Mann aus dem Gefängnis an der Zinnstraße in Ummeln entwichen und geflüchtet ist. Die Polizei sucht seitdem mit Einheiten des Streifendienstes und Verstärkung der Bereitschaftspolizei, mit Polizeihunden und einem Polizeihubschrauber die Gegend ab. Auch eine 30.000 Euro teure Drohne wird zur Suche aus der Luft eingesetzt. Sie ist mit einer Wärmebildkamera ausgestattet, um den warmen Körper eines Menschen auch im Dickicht oder Unterholz finden zu können.

Polizeisprecher Fabian Rickel bestätigt um 11 Uhr: „Der Gefangene saß im Hafthaus Ummeln der JVA Senne. Dort war er zum Zeitpunkt seiner Flucht im geschlossenen Bereich.“ Die JVA Senne ist grundsätzlich ein Gefängnis des offenen Vollzugs. Aber der nun gesuchte Häftling habe zum Zeitpunkt des Ausbruchs keinen Ausgang gehabt. Die erste Meldung, dass der Ausbruch in der JVA Bielefeld-Brackwede stattgefunden haben soll, ist demnach nicht zutreffend.

Mann flüchtete in Richtung A33 bei Bielefeld


Das Gebiet um die beiden Bielefelder Gefägnisse wird seit Dienstagmorgen von zahlreichen Polizeibeamten durchsucht. - © Paul Brinkmann

Das Gebiet um die beiden Bielefelder Gefägnisse wird seit Dienstagmorgen von zahlreichen Polizeibeamten durchsucht.
| © Paul Brinkmann

Der Geflohene ist nach aktuellem Kenntnisstand der Behörden in Richtung Autobahn geflüchtet – die A33 verläuft ganz in der Nähe, so die Polizei. Der Mann wird in der Mitteilung der Polizei Bielefeld wie folgt beschrieben: „Er ist 1,86 m groß, schlank, hat eine Glatze und einen Vollbart. Er hat links ein Tattoo.“ Wo genau dieses Tattoo zu sehen ist, ist nach Angaben der Polizeipressestelle noch nicht geklärt. Im Gesicht soll das Tattoo nicht sichtbar sein.

TikTok-Morddrohungen gegen Polizisten führen zu SEK-Festnahme

Der Häftling saß laut Polizei wegen Gewaltdelikten in Haft und gilt als gewaltbereit. Weil er in zwei TikTok-Livestreams gedroht hatte, Polizisten umbringen zu wollen, wurde der Rocker aus dem Ruhrgebiet am 5. Juni in Essen-Katernberg vom SEK festgenommen. Das berichtete im Rechtsausschuss des NRW-Landtags eine Mitarbeiterin des Justizministers Benjamin Limbach. In diesen Livevideos habe sich der 39-Jährige mit einer Schusswaffe gezeigt. Bei der Festnahme sollen bei ihm Waffen gefunden worden sein.

Bis dahin war der Rocker, der bei seiner Festnahme eine Rockerkutte mit dem 1%-Patch (Zeichen für Outlaw-Status) trug, laut Seidler nur wegen Verkehrsdelikten verurteilt worden. Zu einem Jahr und zehn Monaten wurde er wegen falschen Überholens verurteilt und weil er zweimal betrunken Unfälle gebaut hatte, wurde er zudem zweimal zu zehn Monaten wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt. Seine Haftstrafe sollte bis zum 4. Juni 2028 andauern. Das berichtete eine Ministeriumsmitarbeiterin in Rechtsausschuss.

Prüfung der JVA nach Videos schnell abgeschlossen

Sofort antreten musste er die Strafe dann aufgrund der beiden Video-Bedrohungen. Weil er bis dahin auf freien Fuß gewesen war, sieht die Rechtslage für den Haftantritt grundsätzlich den offenen Vollzug vor – in diesem Fall zuständigkeitshalber das Hafthaus Ummeln der JVA Senne. Am Mittwoch, 11. Juni wurde er deshalb von der JVA Essen nach Bielefeld verlegt. Die SEK-Festnahme eines möglicherweise gewaltbereiten Verdächtigen hat dabei nicht zur Folge, dass der Verdächtige im geschlossenen Vollzug landen kann, hieß es weiter. Das wäre nur im Fall einer U-Haft passiert. Dazu hatte die Justiz bisher keinen Anlass gesehen.

Im Hafthaus Ummeln werden neue Häftlinge zunächst im „geschlossenen Bereich“ untergebracht, wo der Häftling auf seine Eignung für den offenen Vollzug geprüft wird. Obwohl die dafür notwendigen Unterlagen noch gar nicht eingetroffen waren, hatte die Leitung der JVA Senne bereits dem Plan, den Häftling in den offenen Vollzug zu verlegen, widersprochen: „Wer dem Staat mit Gewalt droht oder Polizisten mit Mord bedroht, ist dafür grundsätzlich nicht geeignet“, sagt der stellvertretende Anstaltsleiter Seidler. Diese Entscheidung hat die JVA am vergangenen Freitag, 13. Juni, getroffen.

Häftling nutzt Einstieg in den Gefangenenbus zur Flucht

Deshalb sollte der 39-Jährige am Dienstag, 17. Juni, mit anderen Häftlingen in Häuser des geschlossenen Vollzugs verlegt werden. Im Fall des 39-Jährigen sollte es in die JVA Geldern gehen. Doch vor dem Einstieg in den Gefangenenbus schubste er einen der fünf Justizbeschäftigen in der Ausgangsschleuse weg und sprang offenbar sehr flink auf das Innentor der Schleuse. Diese Schleuse sei 2,83 Meter hoch, so der JVA-Sprecher. „Die Justizbeschäftigten konnten ihn nicht mehr ergreifen und mussten erst das elektrische Rolltor öffnen, um ihm zu folgen.“

Diesen Zeitverlust soll der 39-Jährige genutzt haben, um von dem Rolltor in den Außenbereich zu gelangen und dort einen ähnlich hohen Außenzaun zu überwinden. „Der Häftling soll das Tor und den Zaun mit nur einem Satz erklommen haben“, sagt Seidler. Damit sei nicht zu rechnen gewesen. Eine solche Flucht habe es jahrzehntelang nicht gegeben. Die Leitung der JVA Senne, die grundsätzlich ein Gefängnis des offenen Vollzugs ist, überlegt nun, diese Schwachstelle mit zusätzlichem Nato-Draht weiter zu sichern. Ein deutlich höherer und ausbruchssicherer Zaun ist lediglich im geschlossenen Vollzug üblich.

Im Rechtsausschuss kam die Frage auf, warum die Beamten dem Häftling nicht sofort folgen konnten. Die Mitarbeiterin des Ministeriums entgegnete: „Unsere Beamten mussten erst das elektrische Rolltor öffnen, weil sie nicht so sportlich waren wie der Häftling.“

Polizei Bielefeld warnt: Keine Anhalter mitnehmen!

Schon seit dem Vormittag geht die Polizei davon aus, dass der Geflüchtete versucht, so schnell wie möglich „eine große Distanz zu seinem Ausbruchsort aufzubauen“, hieß es in einer Warnung der Polizei an die Bevölkerung. „Deshalb sollten Verkehrsteilnehmer im näheren und weiteren Umfeld der JVA keine Anhalter mitnehmen.“ Die Ermittler schließen nicht aus, dass der Gefangene inzwischen in einem Fahrzeug die Flucht ergriffen und OWL schon den Rücken gekehrt haben könnte.


Das Hafthaus Ummeln (hier im Hintergrund) ist Teil der größten JVA Europas - der JVA Senne. - © Paul Brinkmann

Das Hafthaus Ummeln (hier im Hintergrund) ist Teil der größten JVA Europas – der JVA Senne.
| © Paul Brinkmann

Laut NW-Informationen hatte die Polizei zunächst auch das Verkehrsunternehmen Mobiel informiert, falls der Gesuchte in Bielefeld Bus oder Bahn nutzen sollte.

Zum Thema: Zeitreise durch 40 Jahre JVA Brackwede: Von Ausbrüchen, RAF-Terroristen – und JVA-Baby Sascha

Die Polizei hat das Gebiet rund um die beiden Gefängnisse in Ummeln (dort stehen die JVA Brackwede mit dem geschlossenen Vollzug und das Hafthaus Ummeln der JVA Senne mit offenem Vollzug) weiträumig abgesperrt und durchsucht seitdem das Gebiet. Auch das angrenzende Gebiet rund um Steinhagen wird von starken Polizeikräften durchsucht.

Um 16 Uhr konnte die Polizei immer noch keine Festnahme des Entflohenen vermelden. Allerdings liefen auf allen Ebenen Ermittlungen zum Aufenthaltsort des Gesuchten, nicht nur in Bielefeld und Umgebung, heißt es von den Sicherheitsbehörden.

Wegen der massiven Drohungen, die der geflüchtete Häftling zuvor gegen Polizeibeamte ausgesprochen haben soll, sollen inzwischen auch SEK-Einheiten bei der Suche nach dem 39-Jährigen involviert sein. Der 39-Jährige sagte nach seiner Festnahme Anfang Juni zu seiner Rocker-Montur, dass er keiner Rockergruppierung angehöre, so berichtete es das Justizministerium im Rechtsausschuss. Sehr wohl gehöre seine Familie aber den Hells Angels an. Insbesondere in Hells-Angels-Kreisen sind 1%-Abzeichen gängige Symbole der Mitglieder.

Zeugen melden den Gesuchten per Notruf 110

Ausbruch aus der JVA Senne

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Die Polizei bittet Zeugen, Hinweise auf den aktuellen Aufenthaltsort des Gesuchten der Polizei Bielefeld zu melden unter der Notrufnummer 110.

Übrigens: Ein Ausbruch aus einem Gefängnis stellt in Deutschland keine Straftat dar. Dem liegt der juristische Gedanke zugrunde, dass ein Ausbruch dem natürlichen Freiheitsdrang des Menschen entspricht und daher nicht unter Strafandrohung gestellt werden dürfe. Sollte der Häftling gefasst werden, wird seine Gefängnisstrafe also nicht erhöht oder ein Strafverfahren angestrengt. Sehr wohl muss er aber mit strengeren Haftbedingungen oder Verlust von Hafterleichterungen rechnen.

Die Geschichte der Gefängnisausbrüche in Bielefeld

Während Ausbrüche aus dem offenen Vollzug eher durch Fernbleiben nach dem geplanten Ausgang regelmäßiger passieren, haben es Häftlinge im geschlossenen Vollzug ungleich schwerer. In der Geschichte der JVA Bielefeld-Brackwede gab es bisher erst eine Handvoll solcher Taten.

Schon fünf Monate nach Inbetriebnahme des geschlossenen Vollzugs gelingt am 20. Oktober 1977 zwei Bankräubern die Flucht aus dem damals „sichersten Gefängnis in NRW“. Mit der Hilfe eines Heizungsmonteurs können sie im Fensterkitt einen Schlüsselabdruck fertigen. Mit ihrem Nachschlüssel gelangen sie in den Heizungskeller und durch den Schornstein auf das Dach. Von dort seilen sich die Ausreißer mit einer Wäscheleine ab. Beide werden später gefasst. Kurz darauf schaffen es auch junge U-Häftlinge aufs Dach.

JVA-Bediensteter berichtet von Geiselnahme 1987

Nach dem ersten Ausbruch 1977 nehmen drei Schwerverbrecher 1987 zwei Vollzugsbeamte als Geiseln. Trotz ihrer Sprengsätze wird die Flucht vor dem Toren der Anstalt von der Polizei gestoppt.

Lesen oder Hören Sie dazu (mit Podcast): Geiselnahme im Bielefelder Gefängnis: Erinnerungen eines Opfers

1989 schafft es ein Häftling, sich in einem Karton zu verstecken, der mit einem Lieferwagen nach draußen fährt. 1992 macht ihm das eine Gefangene in einem Container voll Schaumstoffteile nach. „Das dürfte heute nicht mehr gelingen“, sagte der damalige Anstaltsleiter Uwe Nelle-Cornelsen. „Wir schließen an die Fahrzeuge einen Herzschlagdetektor an.“

Fassadenkletterer nutzt Baustellensituation in Bielefeld

Doch 2021 schafft es ein Fassadenkletterer am 2. Juni. Der U-Häftling (38) war zunächst nach der Einlieferung aus der Transportabteilung entwischt, überwand zwei Zwischenmauern und kletterte dann senkrecht an der sechs Meter hohen Hafthausfassade hinauf. Anschließend überwand er auch noch den sogenannten Widerhakensperrdraht (oder auch NATO-Draht) am oberen Ende der Mauer und flüchtete in den angrenzenden Wald. Es war das erste Mal, dass ein Häftling die massiven Mauern des Gefängnisses überwinden konnte.

„Der Ausbruch wurde begünstigt durch aktuelle Baumaßnahmen am Tattag“, erklärte damals Sprecher Tobias Burkardt. Doch die Freiheit des Ausbrechers währte nur kurz. Nach zwei Stunden schnappte ihn die alarmierte Polizei.