Herbst 2024. In einem niederländischen Werk des Medikamentenherstellers Teva fallen die Maschinen aus. Wenig später geht beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine Meldung des Unternehmens ein: Ein längerer Produktionsausfall droht. Und damit die Knappheit bestimmter Krebsmittel wie Doxorubicin.
Auch für Herz-Kreislauf-Medikamente mehren sich beim BfArM 2024 die Meldungen über Medikamentenengpässe. Ein betroffenes Mittel: Notfallpens mit Adrenalin, die Allergiker im Ernstfall das Leben retten können.
Noch häufiger von Engpässen betroffen sind Medikamente für das Nervensystem, auch Schmerzmittel gehören dazu. 2024 meldeten etwa 15 Hersteller Lieferprobleme mit Hydromorphon, einem Opioid, das in der Palliativ- und Krebstherapie eingesetzt wird.
Zwar gibt es auch positive Tendenzen: Antibiotika, die nach der Pandemie häufiger knapp waren, tauchten zuletzt seltener im Register des BfArM auf. Doch Lieferengpässe beim Mittel Azithromycin ließen die Kurve zuletzt wieder etwas steigen.
All diese Mittel eint: Sie sind besonders relevant für die Versorgung von Patienten – um Krebs zu behandeln, Infektionen zu heilen oder starke Schmerzen zu lindern. Einige dieser Mittel sind noch dazu versorgungskritisch. Für sie gibt es keine Alternativen, nur wenige Produzenten und sie waren schon einmal knapp. Engpässe dieser Mittel sind deshalb besonders ernst – und zuletzt auf einem hohen Niveau.
Wer in Deutschland krank ist und Medikamente braucht, der bekommt sie. Dieses Selbstverständnis ist in den letzten Jahren ins Wanken geraten. Immer wieder drohen teils lebenswichtige Medikamente, knapp zu werden. Und immer wieder warnen Ärzte und Apotheker davor, dass sich die Lage weiter zuspitzen könnte. Dass die Versorgung zunehmend in Gefahr gerät.
Aber tut sie das wirklich? David Francas von der Hochschule Worms erforscht, wie resilient Lieferketten der Pharma- und Biotechnologie sind. Er hat Daten des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) analysiert, die Engpässe listen – und erstmals ausgewertet, ob sich die Versorgung mit Arzneimitteln seit 2018 tatsächlich verschlechtert hat. Diese Auswertung liegt ZEIT ONLINE nun exklusiv vor. „Lieferengpässe sind ein Warnzeichen dafür, dass man keine Reserven, keinen Puffer mehr im System hat“, sagt Francas. „Und die Daten zeigen: Unser System hat nicht mehr allzu viel Puffer. Es operiert an der Kante.“
In den Daten sieht man, dass sich Engpässe nach bestimmten Geschehnissen häuften. Da sind Engpässe des Blutdruckmittels Valsartan im Jahr 2018. Große Chargen des in China produzierten Mittels mussten damals zurückgerufen werden, weil sie erhöhte Mengen Nitrosamine enthielten, ein krebserregender Stoff. Und da ist die Pandemie, während der globale Lieferketten abrupt abrissen. Beides zeigt: Unsere Arzneimittelversorgung baut auf ein globales Netzwerk. „Zwei Drittel der Wirkstoffe kommen aus China und Indien“, sagt Francas.
In Francas‘ Daten sieht man jedoch auch einen längerfristigen Trend, eine kontinuierliche Zuspitzung, die nicht von einzelnen Geschehnissen abhängt – und die zeigt, dass Medikamente zuletzt tatsächlich häufiger knapp waren als noch vor ein paar Jahren. Dass sich die Zahlen zuletzt auf einem – wie Francas sagt – historisch hohen Niveau bewegen. Nur: Was bedingt diesen Anstieg? Und wie gefährlich ist die Lage für Patientinnen und Patienten in Deutschland tatsächlich?
Wenn ein Medikament knapp wird, können Mediziner in den meisten Fällen auf alternative Mittel zurückgreifen, etwa auf ein anderes Antibiotikum oder Blutdruckmedikament. In anderen Fällen müssen Patienten nur etwas länger auf ihre Therapie warten. „Es ist deshalb schwierig, genau zu quantifizieren, was unsere Daten für Patientinnen und Patienten bedeuten“, sagt Francas. „Es gibt aber Übersichtsarbeiten (PDF), die durchaus zeigen, dass erhöhte Lieferengpässe mit mehr Versorgungsproblemen bis hin zu einer höheren Mortalität von Patienten einhergehen.“
Ein Hauptproblem, sagt Francas, sei eine immer höhere Marktkonzentration. Das heißt: Immer weniger Pharmaunternehmen halten die Zulassung für ein bestimmtes Arzneimittel. Meist, weil sich die Produktion wirtschaftlich nicht lohne, sagt der Forscher. Das betreffe vor allem Generika. Medikamente also, deren Patentschutz abgelaufen ist und deren Marge sehr knapp bemessen sei.
Fällt in diesem konzentrierten Markt einer der wenigen Produzenten weg, dann kann das System den Ausfall nicht ausreichend kompensieren. Ein prominentes Beispiel aus den Vorjahren, das vielen Eltern noch in Erinnerung sein dürfte: Fiebersaftknappheit. „Vor drei Jahren hat sich ein großer Player mit rund einem Drittel des Marktanteils zurückgezogen“, sagt Francas. Übrig blieb nur ein anderes Unternehmen, das den Kapazitätsausfall nicht sofort auffangen konnte.
Viele Medien berichteten damals über verzweifelte Eltern, die unzählige Apotheken abfuhren, um vergeblich nach Fiebersaft für ihre kranken Kinder zu suchen. Oder über Apotheker mit leeren Regalen, die die Eltern vertrösten mussten. Der Druck auf die Politik stieg. Und die Politik handelte. Am 23. Juni 2023 beschloss der Bundestag ein Gesetz zur Bekämpfung von Lieferengpässen.
Die Bundesregierung verpflichtete Hersteller und Großhändler, größere Vorräte anzulegen. Sie erlaubte Krankenkassen, höhere Preise zu zahlen, wenn Antibiotika aus der EU stammten – ein Anreiz für mehr Produktion in Europa. Und sie lockerte Preisregeln für Generika – wenn auch nur für bestimmte Medikamentengruppen, etwa Kinderarzneien. „Seitdem ist es nicht schlimmer geworden. Das heißt im Umkehrschluss aber auch: Es ist nicht besser geworden“, sagt Francas. „Es fehlt einfach das Geld im System. Und Resilienz kostet Geld.“ Geld also für die Widerstandsfähigkeit des Systems vor Konflikten in Ländern wie etwa China, aus denen wir einen Großteil unserer Medikamente beziehen.
Verteidigungsgelder für Medikamente
Die Europäische Union möchte das nun ändern. Sie möchte Anreize schaffen, die Produktion von bis zu 280 kritischen Wirkstoffen nach Europa zurückzuverlegen – auch um in einer immer weniger berechenbaren Welt nicht von Ländern wie China abhängig zu sein. Am 11. März dieses Jahres stellte sie dazu den Critical Medicines Act vor.
Für den Zeitraum 2026 und 2027 sieht der eine Finanzierung von 80 Millionen Euro vor. „Dafür bekommt man die Produktion eines Wirkstoffs von China nach Europa zurückverlagert“, sagt Francas. Zumindest den Aufbau und Produktionsstart. Denn eine Anlage in Europa dauerhaft zu betreiben, sagt Francas, werde immer teuer sein als eine vergleichbare Anlage in China oder Indien. „Mit der Konsequenz, dass sie dauerhaft subventioniert werden muss, um wettbewerbsfähig zu sein.“
Die politische Botschaft, die Produktion zurückholen und halten zu wollen, die verfange bislang mehr auf dem Papier als in der Realität, sagt er. Immerhin – das stimmt auch den Forscher vorsichtig optimistisch – ist das Problem aber nun allen politischen Entscheidungsträgern bewusst. Es gibt klare Bekenntnisse, etwas ändern zu wollen.
Mehrere EU-Gesundheitsminister etwa forderten kürzlich in einer Stellungnahme, Gelder des EU-Verteidigungsfonds auf kritische Medikamente auszuweiten. Einem Fonds, der – wenn es nach Ursula von der Leyen geht – 800 Milliarden Euro umfassen soll. Die Gesundheitsminister schreiben, dass Europas Verteidigungskapazitäten ohne unentbehrliche Medikamente gefährdet seien. Dass man es sich nicht länger leisten könne, Arzneimittelsicherheit als zweitrangiges Thema zu behandeln. Sie schreiben: „Alles andere wäre eine schwerwiegende Fehleinschätzung.“