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Ein 20-jähriger Hamburger soll weltweit Kinder bis in den Tod getrieben haben. Die Ermittlungen führen tief in ein internationales Terrornetzwerk.

Die Vorwürfe, die Polizei und Staatsanwaltschaft einem 20-jährigen Hamburger machen, klingen verstörend und kaum fassbar. Es geht um Mord, versuchten Mord, Missbrauchdarstellungen, sexuellen Missbrauch, Rechtsextremismus, Nihilismus, Sadismus, Satanismus und internationale Cyberkriminalität. Er soll ein zentraler Akteur der Gruppierung „764“ gewesen sein, die vom FBI als terroristisch eingestuft wurde. Mehr als 120 Taten werden dem Mann, der sich „White Tiger“ nannte, zugeordnet. Im Fokus standen immer gezielt verletzliche Kinder und Jugendliche, die eigentlich nach Hilfe gesucht hatten.

Polizei und Staatsanwaltschaft ermittelten acht geschädigte Kinder zwischen 11 und 15 Jahren. Zwei von ihnen kamen aus Hamburg, eines aus Niedersachsen. Der 20-jährige Deutsch-Iraner soll einen 13-Jährigen aus den USA dazu gebracht haben, sich das Leben zu nehmen. Eine 14-Jährige aus Kanada überlebte einen Suizidversuch. Andere Kinder lebten in Finnland, England und anderen Regionen in Deutschland. Die Taten passierten digital, auf Plattformen wie Instagram und Discord oder in diversen Internetforen.

In der Nacht zum 17. Juni vollstreckten die Ermittler der Soko „Mantacore“ den Haftbefehl gegen „White Tiger“ in Hamburg-Marienthal, wo er noch bei seinen Eltern lebte. Staatsanwältin Maileen Shargh und Staatsanwalt Nicolas Benz haben bei einer Pressekonferenz Einblicke in die Ermittlungen und in ein System gegeben, das auf psychologischer Zerstörung, sexualisierter Gewalt und einem perfiden Wettbewerb um extreme Darstellungen basiert.

Die mutmaßlichen Täter geben den Opfern jeweils gezielte Anweisungen zur Selbstverletzung – sogar vor laufender Kamera in Livestreams. „In einigen Fällen konnten wir feststellen, dass die Geschädigten bereits so stark manipuliert waren, dass eine einfache Aufforderung ausreichte, um sie zu weiteren Handlungen zu bewegen“, sagte Shargh.

Polizei und Staatsanwaltschaft zeigen auch konkrete Fälle, in die „White Tiger“ verwickelt sein soll. Auf einem Foto ist ein Mädchen zu sehen, das sich auf Anweisung mehrfach ins Bein geschnitten hat. Es sollte mit dem Blut ein Spielfeld für Tic-Tac-Toe auf ihrem Körper zeichnen und die Spielzüge setzen.

Auf einer anderen Aufnahme ist zu sehen, wie sich ein Mädchen auf Anweisung den Usernamen des 20-Jährigen in die eigene Haut geritzt hat. Dabei handelt es sich um sogenannte „Cut Signs“ – Bilder oder Videos davon sammeln „White Tiger“ und andere Täter als Trophäen. Zudem dienen sie als Vorlage für noch brutalere Taten an anderen Opfern.

„Es handelt sich um einen Überbietungswettbewerb“, sagt Benz. Die Zuschauer der Livestreams fordern immer mehr, lachen über ihre Opfer, manipulieren sie, um sie zu immer brutaleren Verletzungen zu treiben. „Innerhalb der Gruppierung wird ein immenser psychischer Druck aufgebaut, ein Netzwerk der Angst“, sagt Benz. Einen Ausweg finden die Kinder und Jugendlichen selten. Und: Die Täter manipulieren sie oft so, dass sie selbst neue Opfer suchen.

Die Kinder und Jugendlichen werden gezielt auf Plattformen wie Discord, Telegram, Instagram und Snapchat, in Spielen wie „Roblox“ und „Minecraft“, aber auch in bestimmten Foren für Hilfe suchende oder suizidgefährdete Menschen angesprochen. „Die Täter beginnen meist mit einem unverfänglichen Gespräch, Aufmerksamkeit und Komplimenten, erschleichen sich Vertrauen und täuschen ersehnte Freundschaft oder Liebe vor“, erklärt Benz. Das soll Vertrauen aufbauen und eine emotionale Abhängigkeit schaffen. Wer bereits psychisch instabil ist, lässt sich dann umso leichter gezielt manipulieren und zu Handlungen drängen.

Eine Masche ist es, die Opfer zu Nacktfotos zu drängen, mit denen diese erpresst werden können – der Fachbegriff dafür lautet „Sextortion“. Das Thema Suizid rücken die Täter ganz bewusst in den Mittelpunkt. Sie konfrontieren die Kinder teils über Wochen und Monate hinweg in stundenlangen Chats oder Livestreams damit, um sie psychisch zu zermürben und gefügig zu machen.

Die Ermittler gehen davon aus, dass die Person hinter „White Tiger“ einer der führenden Köpfe der Gruppierung „764“ war oder ist – ob er seit Beginn der Ermittlungen im September 2023 noch weitere Straftaten begangen hat, ist unklar.