Auch wer die Musik von Tokio Hotel nicht kennt und die Zwillingsbrüder Tom und Bill Kaulitz seltsam findet: Die beiden strahlen ansteckende Lebensfreude aus und wissen, wie man ein Publikum unterhält – auch in der zweiten Staffel ihrer Netflix-Doku. Und das ist nicht wenig.

Es ist natürlich sehr praktisch für eine Dokumentation, wenn zur Erklärung auch der abseitigsten Aktionen einer Hauptfigur immer genau die Person als Kommentator bereitsteht, die einfach alles über diese Person weiß – und auch Spaß daran hat, den Wahnsinn kompetent und (liebevoll) spöttisch einzuordnen.

„Bill lebt heute das Leben wie ich mit 15 Jahren“, erklärt etwa Tom, der zehn Minuten ältere der beiden Zwillinge. In der symbiotischen Beziehung der beiden ist er ganz der große, vernünftigere Bruder – und zugleich musikalischer „Spin Doctor“ der gemeinsamen Band Tokio Hotel. Diese Band machte die beiden Jungs aus Magdeburg quasi als halbe Kinder mit dem Song „Durch den Monsun“ im Jahr 2005 zu Weltstars.

Der Rummel, der Frontmann und Sänger Bill innerhalb weniger Wochen mit seinem außergewöhnlichen Look zum weltweiten Teenie-Idol machte – viel Kajal, schwarz gefärbte Haare, wie unter Starkstrom gesprayt –, ließ das Brüderpaar schnell nach Los Angeles fliehen. Dort, in der luxuriösen Anonymität von Beverly Hills, hat Bill seitdem auf einem Hügel sein Haus.

In diesem Haus spielt auch, wenn auch nicht mehr so hauptsächlich, die zweite, erneut achtteilige Staffel der Netflix-Doku. Dort zelebriert Bill diesmal noch intensiver seine Krisen, pflegt seine Neurosen und teilt seinen persönlichen Wahnsinn. Das macht „Kaulitz & Kaulitz“ so entertaining – nicht nur für seinen Bruder und Freunde, sondern in erstaunlicher Offenheit auch für die Kamera.

Man muss die Musik von Tokio Hotel nicht kennen, sie nicht mögen und erst recht nicht Bills schrillen, queeren Lifestyle teilen oder bewundern, um die Serie als perfekte Abendunterhaltung zu betrachten. Sie funktioniert als echte Feel-Good-Serie in eher düsteren Zeiten.

Was diese Doku-Serie, realisiert vom deutschen TV-Produktionsunternehmen Constantin Entertainment, so sehenswert macht, ist nicht nur das beinahe perfekte Handwerk – Musik, Szenenbild, Schnitt, der sogenannte look & feel –, sondern vor allem, dass sie wirkliche Nähe und exklusive Einblicke in eine Welt bietet, die den meisten verschlossen bleibt.

In Bill Kaulitz hat die Serie zudem einen Hauptdarsteller, der sich „nix scheißt“: Eine geborene Rampensau, auf der Bühne wie im Leben, der Lust hat, von sich zu erzählen und die Zuschauer scheinbar wirklich in sein Leben mitzunehmen. Das ist der große Unterschied zu aseptischen Dokus wie etwa der von Meghan Markle.

Ob es um Liebeskummer, Konsumräusche oder die Abhängigkeit vom persönlichen Assistenten geht – ohne dessen Hilfe Bill, wie Tom feststellt, sich nicht einmal die Schuhe binden könnte, geschweige denn einen Arzttermin ausmachen. Das Casting für diesen aufreibenden Job, den kaum jemand lange durchhält, gewinnt in Staffel zwei Daniel, nachdem Bills bisherige Assistentin Lisa aus der ersten Staffel sich schließlich doch für ein eigenes Leben entschieden hat.

Wenn eine Dramaqueen Liebeskummer hat – wie Bill nach seiner beendeten Affäre mit dem YouTuber Marc Eggers in Staffel eins –, dann reicht in der Fortsetzung der Doku kein Kaufrausch mehr durch die Luxusboutiquen am Rodeo Drive. Jetzt muss es ein neuer Pool sein, inklusive Whirlpool. Allein dieser soll laut Plan 250.000 Dollar kosten. Dafür werden zunächst sämtliche alten Bäume auf dem Grundstück radikal gestutzt oder gefällt.

Ohne zu viel zu spoilern (ein Wasserschaden spielt eine größere Rolle): Bill sucht weiter die Liebe, unter anderem bei einem peinlichen, von Tom für seinen Bruder arrangierten Date. Zudem verlangt die Band, die bislang keine Rolle spielte, vor der anstehenden Festivalsaison endlich neue Songs. Die anderen beiden Bandmitglieder – und vor allem der Manager – meckern. Das fordert auch den im Vergleich zur selbst ernannten „Königin von Kaulitz“ (Bill) zweiten Hauptdarsteller Tom deutlich mehr.

Tom Kaulitz, den viele in Deutschland wohl erst wahrgenommen haben, als er zunächst Freund und dann Ehemann von „Germany’s next Topmodel“-Mama Heidi Klum wurde, bleibt auch in der zweiten Staffel – obwohl von Fans gefordert – wieder nur Nebendarsteller. Er ist der verständnisvolle Begleiter, Kümmerer, Mahner und im Idealfall auch der Problemlöser in einer Person. „Ich habe Talent, du hast die Technik“, sagt Bill einmal.

Viel gibt Tom über sein Privatleben – da passt Heidi schon auf – nicht preis, macht aber dennoch eine super Figur. Nicht, weil er ins Gym geht, auch wenn er das behauptet, sondern weil er offensichtlich ein Typ ist, der sehr in sich ruht, sich mit seiner Frau wirklich gut versteht (Heidi kommentiert diesmal öfter gemeinsam mit Tom das Geschehen) und seinen Bruder liebt. Nach Ansicht der Episoden wird sich wohl jeder einen Bruder wie ihn wünschen: einer, der immer mit größtem Verständnis an der Seite steht. Ruhig, gelassen – im Auge des Orkans. Und ganz sicher auch durch den Monsun.

„Kaulitz & Kaulitz“ Staffel zwei ist ab 17. Juni in acht Episoden bei Netflix zu sehen.