Größer könnte der Unterschied zwischen Illusion und Realität an diesem angenehm warmen Frühsommerabend nicht sein. Während die gigantische Bühnenkonstruktion in der Stadtwerke-Arena ohrenbetäubende Blitz- und Donnergeräusche macht und anmutet, als hebe sie gleich wie ein monumentales Raumschiff ins Weltall ab, strahlt am azurblauen Himmel darüber friedlich die goldene Abendsonne.

Judas Priest, die Veteranen des Heavy Metal mit mehr als einem halben Jahrhundert auf dem von Silbernieten durchzogenen schwarzen Lederbuckel, treten gleich ins Rampenlicht. Zu diesem Zeitpunkt befinden sich ihre fast 8000 Fans schon mittendrin in einem mehrstündigen hartmetallischen Stelldichein, das Teil des Hessentags ist, dem mehrtägigen Volksfest, das das Land Hessen dieses Jahr in der Kleinstadt Bad Vilbel bei Frankfurt ausrichtet.

Ein regelrechtes Minifestival des Hard Rock und Heavy Metal hat sich da phonstark vor den Besuchern ausgebreitet und mit riesigen Hintergrundprojektionen für visuelle Reizüberflutung gesorgt. Und gleich zwei Formationen haben sich die Pflicht als vergnüglich kurzweilige Anheizer geteilt. Während die Familienbande Phil Campbell And The Bastard Sons aus Wales sich stilistisch doch sehr an Mr. Campbells früherem Job bei Motörhead orientieren, erinnern Accept aus Solingen mehr oder minder an AC/DC in der Bon-Scott-Ära.

So gut wie früher

Letztlich warten aber alle auf den als „Metal God“ apostrophierten Wundervokalisten mit der Mehroktavenstimme. Rob Halford, erst 1973 bei den schon 1969 in Birmingham gegründeten Judas Priest eingestiegen, zählt auch schon 73 Lenze. Ein wuchtig buschiger Vollbart ziert das Antlitz des Glatzenträgers. An der Nase prangt ein silberner Ring, das Leder, das er am Leib trägt, ist selbstverständlich handgefertigt.

KI-Artikelchat nutzen

Mit der kostenlosen Registrierung nutzen Sie Vorteile wie den Merkzettel.
Dies ist
kein Abo und kein Zugang zu FAZ+
Artikeln.

Sie haben Zugriff mit Ihrem Digital-Abo.

Vielen Dank für Ihre Registrierung




Alle drei, vier Songs hetzt Halford, der die Bühnenbretter ohnehin voll nervöser Unruhe von der einen zur anderen Seite durchmisst, in seinen Textilbunker, um mit einer neuen, noch exotischeren Kutte aufzutrumpfen. Der Mummenschanz erweist sich als fast so effektiv und eindrucksvoll wie die noch immer lupenreinen Gesangseinlagen des britischen Stimmwunders.

Halford wird gerne als Mr. Judas Priest bezeichnet. Als er sich 1992 bis 2003 eine Auszeit von der Band nahm, sanken ihre Popularitätswerte rasch. Von 1992 bis 1996 war sie inaktiv, mit Halfords zeitweiligem Ersatz Tim „Ripper“ Owens wurden Teile der Anhängerschaft nie richtig warm.

Judas Priest, in der Gegenwart komplettiert durch den Bassisten Ian Hill, den Schlagzeuger Scott Travis sowie die beiden E-Gitarristen Richie Faulkner und Andy Sneap, ziehen nahezu schnörkellos ein kompaktes 20-Song-Programm aus immerhin 19 Studioalben durch. Wer auf ein pures Best-Of mit sämtlichen Hymnen-Granaten gehofft hatte, dürfte enttäuscht sein. Auch im 56. Jahr ihrer Existenz bleiben Judas Priest kompromisslos unangepasst.

Zu kurz kommen die Feiernden in der Arena dennoch nicht. Schließlich finden sich mit „Painkiller“, „Breaking The Law“ und „Between The Hammer And The Anvil“ zumindest einige Fan-Favoriten im Programm. Im Zugaben-Teil weitet sich das Angebot noch aus. Bei „Hell Bent For Leather“ braust Halford mit schwerem Luxusmotorrad in Rockermanier auf die Bühne. Und auch der finale Ohrwurm „Living After Midnight“ zählt zur Gilde der Klassiker.