Was lesen Sie?

Zum einen Georges Batailles „Die Höhlenbilder von Lascaux oder die Geburt der Kunst“. Bataille schreibt von Unbeschreibbarem – über Atmosphäre und Kraft der dreißigtausend Jahre alten Höhlenbilder und über Kunst. Die Bilder sind, so Bataille, aus Gemütsbewegungen geboren, und sie wenden sich auch unmittelbar an das Gemüt. Sie sind verführerisch nutzlose Zeichen inmitten eines Meeres aus Nützlichkeit, ein Meer, so groß wie der Atlantik und so flach wie die Berner Au. Das ist ein kleiner stinkender Bach in Hamburg-Bramfeld, wo ich aufgewachsen bin. Bauwerken und Berufen kann man nicht entfliehen. Aber man kann in die unbekannte Tiefe der Kunst fliehen und so den Weg hinaus antreten, Richtung Atlantischer Ozean. Gleichzeitig lese ich Rolf Dieter Brinkmanns Gedichte „Westwärts 1&2“, und zwar nicht in der bisherigen verstümmelten, sondern in der neu herausgegebenen, ungekürzten Form. Ich lese es, weil ich darin Zeilen wie diese finde: „Es ist Zeit, dass wir einander mehr Geschichten / erzählen, wo man nicht mit dem Rücken zur / Wand steht, sondern in der offenen Tür, im / Tageslicht, das nicht zerfällt“. Nebenbei lese ich auch immer ein paar Seiten in Agnes Hellers „Theorie der Gefühle“, einem postmarxistischen Analyseversuch über das Verhältnis von Gefühl und Denken, der „Fragestellung unserer Zeit“. Dem einheitlichen, nicht gespaltenen Menschen stehen die Lebenstatsachen der „bürgerlichen Weltepoche“ entgegen, die auf der Auffassung von „Verstand“ und „Gefühl“ als gegensätzlichen Prinzipien fußen. Das ist das Thema, mit dem ich mich seit Längerem beschäftige, ich schreibe an einem „persönlichen Sachbuch“, hauptsächlich darüber. Und ich blättere in „Die Unsterblichkeit der Sterne“, dem Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Kunstmuseum ­Solingen im Jahr 2010. Der Antiquar Herbert Blank hat jahrelang daran gearbeitet, die Bibliothek Benjamins nachzubauen, wiederherzustellen. Polgar, Ringelnatz, Benn, Märchen von Amelie Godin, Kant, Adorno, Heidegger, Lukács, Mendelssohn, Balzac und Baudelaire. Dazu gesellen sich im Katalog Goyas Bilder und einiges andere mehr, man sieht die Buchdeckel und spürt, was Bücher für die Leser waren. Und was sie nie mehr sein werden.

Welches Buch haben Sie im Bücherschrank, das Sie bestimmt nie lesen werden?

Es gibt ein Buch, von dem ich befürchte, dass ich es nie lesen werde, hoffe aber inständig, dass diese Befürchtung nicht zur Tatsache wird.

Es ist „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust. Irgendwann hatte ich angefangen, es zu lesen, aber dann hatte ich das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben für die fünftausend Seiten. Ich sehne mich aber danach, jemand zu sein, der nicht mehr eben jenes ständige Gefühl des Verlusts empfindet. Jemand, der selbst nicht mehr soviel Zeit darauf verwendet, auf der Jagd nach der verlorenen Zeit zu sein. Ein Mensch, der einfach fünf Seiten lesen kann oder fünfzig oder fünfhundert oder fünftausend, ohne die vergehende Zeit zu fühlen, der sich einfach hingibt.

Jedes Mal, wenn ich in Griechenland war und die alten Männer und Frauen am Rand eines kleinen Dorfplatzes sah, einfach sitzend, redend, schweigend, auch lesend, wünschte ich mir für mich selbst genau so eine Subjektkomposition.

Der Schauspieler Fabian Hinrichs studierte erst Jura, bevor er an die Folkwang Universität der Künste wechselte. Er feierte 2005 mit dem für einen Oscar nominierten Film „Sophie Scholl – Die letzten Tage“ in der Rolle des Hans Scholl seinen Durchbruch. Als Kommissar im Franken-Tatort ist er einem großen Publikum bekannt und hat im Theater viel mit René Pollesch gearbeitet und mit ihm auch Regie geführt.

In der Sonntagszeitung vom 22. Juni finden sich zusätzlich die Antworten von Fabian Hinrichs auf die Fragen, was er sieht, was er hört – und wann er zuletzt seine Meinung geändert hat.