Knapp ein Jahr ist es mittlerweile her, dass Miroslav Klose Personenschutz benötigte. Er ist zwar ein weit gereister Mann und Aufmerksamkeit schon lange gewohnt, doch in diesem Moment dürfte er sich trotzdem wie ein Popstar gefühlt haben.
Gerade hatte der Club auf dem Sportgelände der TSG 08 Roth ein Testspiel gegen den TSV 1860 München bestritten, jetzt musste es Klose irgendwie ins Vereinsheim des Kreisligisten schaffen. Als Nürnberg den Weltmeister von 2014 vier Wochen zuvor als neuen Trainer vorgestellt hatte, trat der Verein in ganz Franken einen Hype los, der sich an jenem Nachmittag von Roth auch in Zahlen bemessen ließ: Sechs Ordner brauchte es, um Klose nach dem zweiten Nürnberger Testspiel der Sommervorbereitung in den Keller des Sportheims zu geleiten und zu verhindern, dass er auf dem Weg von Menschenmassen belagert wurde. Im Untergeschoss, in dem Roth seinen früheren Tanzsaal für eine Medienrunde zur Verfügung stellte, sollte Klose Fragen beantworten. Wie also war das gerade mit den Ordnern? Hat er, Klose, sowas schon mal erlebt?
„Eigentlich“, scherzte Nürnbergs Trainer im Keller des Sportheims, „bin ich noch drei mehr gewohnt. Aber ich war mit den sechs zufrieden.“
Sechs Ordner, daran ließ sich ziemlich gut ablesen, welch bahnbrechende Begeisterung Klose mit seiner Ankunft in Nürnberg ausgelöst hatte. Eigentlich aber hätte man gar nicht nachzählen müssen – es war ja überall zu spüren. Und darum, ums Gefühl, um Emotionen geht es doch beim Fußball, auch und gerade bei einem Verein wie dem FCN.
Joti Chatzialexiou, 49, weiß das. Als Klose vor einem Jahr nach Nürnberg kam, hatte auch er seinen Dienst als neuer Sportvorstand am Valznerweiher gerade erst angetreten. Zwölf Monate später führt er den Club nun durch einen Transfersommer, in dem zum ersten Mal Zahlen im Mittelpunkt stehen. Das sei neu und besonders, sagt Chatzialexiou und meint nicht die sechs Ordner damals in Roth. Die Zahlen, um die es jetzt geht, sind etwas komplexer – und sie sollen dem FCN auch mehr helfen als bloß vom Spielfeld in ein Sportheim.
„Wir wollen irgendwann mal aufsteigen. Da wollen sie uns unterstützen“, sagt Chatzialexiou
Anfang des Monats hat der Club bekannt gegeben, dass er von nun an mit Jamestown Analytics zusammenarbeiten wird, einem Unternehmen, das Vereinen Datenbanken zur Verfügung stellt, auf deren Basis sie Transfers tätigen können. Das Besondere: Weil Nürnbergs neuer Partner in jedem Land nur mit einem Verein exklusiv zusammenarbeitet, ist der FCN der einzige Klub in Deutschland, der die Datenbanken von Jamestown Analytics nutzen kann – und die Referenzen des Unternehmens sind Dokumente „einer Erfolgsgeschichte“, wie Chatzialexiou sagt.
Da wäre etwa das Beispiel Deniz Undav, mittlerweile beim VfB Stuttgart, Pokalsieger und Nationalspieler. 2020 schoss er seine Tore noch für den SV Meppen in der dritten Liga. Dann holte ihn Union Saint-Gilloise auf Basis von Daten in die zweite belgische Liga, ehe er, auch das auf Basis von Daten, zu Brighton & Hove Albion in die Premier League wechselte. Ein rasanter Aufstieg, der vor allem aufgrund von Zahlen, Zahlen und Zahlen zustande kam. Brighton und Saint Gilloise haben in der Zusammenarbeit mit Jamestown erstaunliche Erfolge erzielt, wie auch Como 1907 in Italien.
Jetzt sagt Chatzialexiou: „Ich bin kein Datennerd, aber ich habe eine große Affinität dazu und bin davon überzeugt, dass Daten eine entscheidende Rolle spielen können.“ Nürnbergs Sportvorstand findet: „Durch die Daten haben wir ein besseres Fundament und eine größere Wahrscheinlichkeit, dass Transfers besser funktionieren.“
„Es schlummern noch ganz viele Talente da draußen, die man mit bloßem Auge gar nicht sieht.“
Verließen sie sich beim Club in der Vergangenheit bei ihren Verpflichtungen oft auf subjektive Eindrücke, sollen objektive Zahlen künftig mehr Gewicht haben als bisher. Wissen statt glauben: Das ist der Weg. Zwar prüfe der FCN die Daten stets „mit unserem Auge“, betont Chatzialexiou, schließlich hat er sämtliche Entscheidungen selbst zu verantworten – doch die neuen Datenbanken eröffnen Nürnberg auch Möglichkeiten, die über das menschliche Ermessen hinausgehen.
„Es schlummern noch ganz viele Talente da draußen, die man mit bloßem Auge gar nicht sieht und die man aufgrund persönlicher Ressourcen auch nicht scouten kann“, erklärt Chatzialexiou. Erst die Daten lassen diese Talente dann auf dem Nürnberger Radar erscheinen. Und, auch das ist ein Mehrwert, den das System bietet: „Es kann sein, dass ein Spieler in Bosnien oder Zypern funktioniert“, sagt Chatzialexiou, „aber für uns ist die Frage, ob er auch in der zweiten Liga in Deutschland funktionieren kann. Dabei hilft uns dann ein Algorithmus.“
Zahlen aus Zypern hier, Belege aus Bosnien da: Auch das soll dem 1. FC Nürnberg helfen, voran- und in absehbarer Zeit wieder dort anzukommen, wo ein Verein wie der FCN nach eigenem Selbstverständnis eigentlich zu Hause ist: in der Bundesliga. „Wir wollen irgendwann mal aufsteigen. Da wollen sie uns unterstützen“, sagt Chatzialexiou über die neue Kooperation.
Dass bei dieser Mission Belege aus Bosnien hilfreich sein können, mag erst einmal bizarr klingen. Aber tut es das nicht auch, wenn man erzählt, dass es auf einem Sportplatz eines Kreisligisten sechs Ordner gebraucht hat, um einen Zweitliga-Trainer auf halbwegs direktem Wege ins Vereinsheim zu bringen?