Es sind bleibende Erinnerungen, und es bleibt eine Vision. In einem Museumssaal in Amsterdam rezitiert der große russische Dichter Andrei Wosnessenski ein flammendes Poem. Er spricht frei, mit mächtiger Stimme, unwiderstehlich. Es ist das Jahr 1987, etwas Epochales liegt in der Luft. Wosnessenski beschwört in einem Countdown mit dem Publikum Demokratie und Freiheit – für sein Land, für Europa.

In jenem Jahr war Amsterdam Europas Kulturhauptstadt, nach Florenz und Athen. Ins Leben gerufen von der griechischen Kulturministerin Melina Mercouri und ihrem französischen Kollegen Jack Lang, begann vor vierzig Jahren dieser Reigen, der dem europäischen Gedanken gilt. Freiheit und Demokratie und Kultur, wie es Wosnessenski intoniert hat: Diese Initiative der EU hat sich als nachhaltig erwiesen.

Chemnitz 2025 ist ein kraftvolles Fest der Demokratie.

Ex-Kulturstaatsministerin Claudia Roth zur Eröffnung der Kulturhauptstadt in Sachsen

Doch wieder ist ein eiserner Vorhang gefallen. Russische Bomben fallen seit über drei Jahren auf die Ukraine. Russland hat sich aus Europa und der zivilisierten Welt verabschiedet.

Historie und Neuland

Abgestoßen von den USA, muss Europa stärker zusammenfinden. Inzwischen richten stets mehrere Städte diese europäischen Spiele aus. 2025 sind es Chemnitz sowie Nova Gorica in Slowenien und Gorizia in Italien. Stets geht es darum, mit Kulturprogrammen übers Jahr Neuland zu entdecken und Vergangenheit zu verstehen, wie an der slowenisch-italienischen Grenze – im Ersten Weltkrieg Schauplatz entsetzlicher Materialschlachten mit Hunderttausenden Toten.

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Zur Eröffnung der Kulturhauptstadt in Sachsen sagte Staatsministerin Claudia Roth: „Chemnitz 2025 ist ein kraftvolles Fest der Demokratie, das den vermeintlichen Widerspruch zwischen Heimatverbundenheit und Weltoffenheit auflöst und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in den Mittelpunkt stellt.“

Das sind ebenso fromme Wünsche wie bitter notwendige Zielsetzungen, und aus den Erfahrungen der vergangenen vier Jahrzehnte lässt sich im positiven Sinn feststellen: Es bleibt immer etwas hängen. Und so wie sich Europa verändert, bleibt der kulturelle und gesellschaftliche Zusammenhalt ein anspruchsvolles Projekt.

Auch daran erinnert man sich gern. 1988 trug Berlin den Titel. West-Berlin allerdings nur. Aus politischer Rücksicht hießt es damals schlicht „Kulturstadt Europas“, ohne das „Haupt“. Die Stadt war noch geteilt, und die Ereignisse vom November 1989 lagen in weiter Ferne, jenseits der Vorstellungskraft. Und doch taten sich bereits Türen zwischen Ost und West auf, wie bei der Heiner-Müller-Werkschau, als Ulrich Mühe die „Hamletmaschine“ las und ein junger, ruppiger Regisseur namens Frank Castorf auf dem Podium im Hebbel Theater saß, das wiedereröffnet worden war.

Öffnung vor dem Fall der Mauer

Das Kulturstadt-Programm „E 88“, kuratiert im Wesentlichen von Nele Hertling und Börries von Liebermann und politisch begleitet von dem dynamischen Kultursenator Volker Hassemer (CDU), gab sich das Motto „Ort des Neuen“. Berlin als Werkstatt der Künste, das funktionierte wunderbar, zeigte sich als kraftvolle Erzählung, die im Grunde bis heute wirkt. Auf einer 80-Pfennig-Briefmarke war der Berliner Bär zu sehen vor dem Wort „Kultur“ in vielen Sprachen. Davon kann die Berliner Politik heute lernen.

Zuschauer verfolgen des Auftritt der Rap-Rock-Band Kraftklub und der Robert-Schumann-Philharmonie zu Beginn des Kosmos-Festivals in Chemnitz. Das dreitägige Festival ist Teil des Programms von Chemnitz als Kulturhauptstadt Europas 2025.

© dpa/Hendrik Schmidt

Auf „E 88“ folgte Paris als natürliche Kulturhauptstadt. Deutschland war 1999 mit Weimar wieder an der Reihe, was der Klassikstadt gut bekam, 2010 feierten Essen und das Ruhrgebiet das europäische Fest. Die Fackel wurde weitergereicht nach Stavanger im Norden, nach Matera in Süditalien, nach Vilnius und Plowdiw in Bulgarien, nach Novi Sad und Thessaloniki. Und wer hätte je vom ungarischen Vezprém gehört ohne die europäischen Weihen!

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2026 geht die Reise nach Trencin in die Slowakei und Oulu in Finnland, es sind die berühmten Ränder, die ins Zentrum rücken, nah genug an der russischen Grenze, die in der Gorbatschow-Zeit keine existenzielle Bedrohung darstellte, sondern fast schon eine Verheißung. Die Geschichte Europas ist auch eine Geschichte der Irrtümer.

Die EU wird an der Kulturhauptstadt-Saga festhalten. Im April verabschiedete in Chemnitz eine Konferenz das „White Paper“ mit „40 Empfehlungen aus 40 Jahren Kulturhauptstädte Europas“. Damit soll das Programm des nächsten Jahrzehnts gesichert und weiterentwickelt werden. Hauptpunkt ist „ein vielfältiges und geeintes Europa“. Die Aufgabe ist schwieriger und damit dringlicher geworden.